Süddeutsche Zeitung

Thomas Biebrichers "Politische Theorie des Neoliberalismus":Gottgewollter Wettbewerb

Das neue Buch des Politologen Thomas Bierbricher und die Frage: Wie autoritär ist der Neoliberalismus?

Von Georg Simmerl

Sind wir nicht wenigstens mit dem Neoliberalismus inzwischen fertig? Kollabierende Gesundheitssysteme führen in der Corona-Pandemie quälend genau vor Augen, dass Privatisierung und Sparmaßnahmen mitunter tödliche Konsequenzen haben. Selbst Angela Merkel scheint vom Glauben an die heilsame Kraft der Austerität verlassen: Nachdem sie im vergangenen Jahr einer gemeinsamen Anleihe für den EU-Wiederaufbaufonds zugestimmt hat, lässt sie nun eine langfristige Aussetzung der Schuldenbremse diskutieren. Und Klaus Schwab, immerhin Chef des Davoser Weltwirtschaftsforums, hat gerade seinen Plan für den "Great Reset" sogar unumwunden mit dem Eingeständnis begründet, der Neoliberalismus habe ausgedient.

Bei ihrem letzten großen Neustart nach der Finanzkrise von 2008 erwies sich die globale Ökonomie allerdings schon einmal als ziemlich umgestaltungsresistent. Die vielen Anzeigen seines Ablebens, die schon damals für den Neoliberalismus aufgegeben wurden, vitalisierten ihn daher auch nur als Globalbegriff der Kritik. Aber egal, ob der Neoliberalismus als ökonomisches Herrschaftsprogramm fortbestand oder doch niemals existierte: Die allgegenwärtige Kritik an ihm hat in jedem Fall erreicht, dass kaum jemand mehr - nicht einmal Friedrich Merz - noch als Neoliberaler bezeichnet werden will. Wie Klaus Schwab flüchten manche lieber gleich selbst ins Lager der Neoliberalismuskritik.

Deswegen müssen Forschende, die den Begriff nicht zur bloßen Distanznahme gebrauchen wollen, sondern an seinem Erkenntnispotenziel festhalten, in der Ideengeschichte zumeist zu jenen zurückkehren, die den Neoliberalismus begründet und noch offen propagiert haben, um von deren Denken aus die Gegenwart zu erschließen.

Die zentrale Frage: Unter welchen Bedingungen sind funktionierende Märkte möglich?

Auch der in Kopenhagen lehrende deutsche Politologe Thomas Biebricher, der zuletzt 2018 mit dem Buch "Geistig-moralische Wende" über die "Erschöpfung des deutschen Konservatismus" auf sich aufmerksam gemacht hat, geht in seinem neuen Buch über den Neoliberalismus so vor. Sein Gebiet sind die bekanntesten Vertreter des Neoliberalismus: die Freiburger Ordoliberalen um Walter Eucken, die in der Weimarer Republik zusammenfanden und später als Väter der "sozialen Marktwirtschaft" reüssierten; der Österreicher Friedrich von Hayek, der 1950 an die Universität Chicago gelangte und später auch in Freiburg lehrte; und die Chicagoer Ökonomen Milton Friedman und James Buchanan.

Biebricher sieht ihr Denken um eine Frage kreisen, die uns auch heute noch nicht loslässt. Er formuliert sie wie der Philosoph Michel Foucault, der die Ideen der Neoliberalen in den späten Siebzigern stilprägend kartierte, bevor ihnen Reagan, Thatcher und die Bundesregierung zum globalen Siegeszug verhalfen. Die Frage lautet: Unter welchen Bedingungen sind funktionierende Märkte möglich?

Geboren in der Zwischenkriegszeit, grenzte sich der Neoliberalismus zwar polemisch vom klassischen Liberalismus ab, dem Marktmechanismen noch als Naturgegebenheiten galten (dass die Liberalen des 19. Jahrhunderts diesen gegenüber aber tatsächlich ein naives Laissez-faire vertraten, bezweifelt Biebricher mit Recht). Die neuen Liberalen restaurierten das klassische liberale Denken aber auch. Eucken etwa trug der Nationalökonomie auf, eine "freie, natürliche und gottgewollte" Wettbewerbsordnung in der Wirklichkeit aufzufinden, die die Politik sichern und ins Werk setzen sollte. Die Neuerung des Neoliberalismus bestand darin, auch in der Theoriebildung zu reflektieren, dass die Bedingungen der Möglichkeit funktionierender Märkte aktiv hervorgebracht werden müssen.

Die Neuerung, die Biebricher wiederum in die Neoliberalismus-Forschung einführt, ist es, diese Theoriebildung deswegen auch als eine politische zu begreifen. Seine Lektüren des neoliberalen Schrifttums, die in ihrer Detailgewandtheit ihresgleichen suchen, präsentieren aber keine kohärente politische Theorie, sondern vor allem Ambivalenzen und innere Widersprüche.

Einhellig ist in der Gedankenwelt der Neoliberalen allein die Ablehnung dessen, was von ihnen mal "Kollektivismus" und mal "Totalitarismus" genannt wird, aber stets den Sozialismus meint. Doch so entschieden sie jeden Eingriff in die freie Preisbildung ablehnen, da er den "Weg zur Knechtschaft" (Hayek) ebne, so beliebig ist, was sie jeweils unter "marktkonformen Interventionen" verstehen. Das Marktgeschehen soll der Staat als robuster Schiedsrichter überwachen, aber zugleich fordern sie seine Einhegung und Dezentralisierung. Und obwohl ihnen die Demokratie als Gefahr gilt, weil Wählermassen und Lobbyinteressen ihre parlamentarischen Repräsentanten unweigerlich zu Klientel- und Verschuldungspolitik treiben, setzt gerade Buchanan auf Volksentscheide - zur Kontrolle der politischen Eliten und zur Durchsetzung der von ihm favorisierten Schuldenbremse.

Dieses ewige Jonglieren mit den autoritären Übergangslösungen

Was Biebricher dabei gekonnt herausarbeitet: Die scharfe Kritik, die die Neoliberalen am Zustand von Politik und Gesellschaft üben, lässt die von ihnen begehrten Reformen jedoch letztlich unerreichbar erscheinen - eine Lücke ihrer politischen Theorie, die allzu oft autoritäre Behelfslösungen provozierte. Die Ordoliberalen etwa forderten in der Endphase der Weimarer Republik gemeinsam mit Carl Schmitt einen sich selbst beschränkenden "starken Staat", der über den Partikularinteressen steht und die freie Wirtschaft fördert - der Sozialdemokrat Herrman Heller erkannte darin seinerzeit schon einen "autoritären Liberalismus".

Vor allem über diese Traditionslinie will Biebricher im zweiten Teil seiner Studie nachweisen, dass die Wirkmacht des neoliberalen Denkens samt seinen autoritären Potentialen bis in die Gegenwart reicht. Sobald er sich der "Ordoliberalisierung Europas" zuwendet, beginnt sich jedoch sein Zugriff etwas zu überstrecken. Es ist zwar kaum zu bestreiten, dass die bundesrepublikanischen Eliten in der Euro-Krise ordoliberales Gedankengut propagierten. An der institutionellen Umgestaltung der Währungsunion, in der die Mitgliedsstaaten nun autoritär auf Austerität und Wettbewerbsorientierung getrimmt würden, kann Biebricher aber nur uneindeutige Verwandschaften aufweisen. Dennoch führen sie ihn zu der hellsichtigen Einschätzung, dass auch die Hilfsgelder aus dem neuen EU-Wiederaufbaufonds an Reformauflagen gekoppelt sind und ein weiterer Hebel für die Durchsetzung der Wettbewerbsordnung werden könnten.

Den Aufstieg der neuen Autoritären, der sich in Deutschland auch aus dem Ordoliberalismus ergab, streift Biebricher dann leider nur noch. Die AfD fordere auch nach dem Weggang ihrer Gründer programmatisch noch immer den "schlanken Staat". Ob der bestehende Staat angesichts seiner Aufblähung in der Corona-Krise aber überhaupt noch durch Reformen verschlankt werden könne, hat im Internet jüngst der Publizist und Verleger Götz Kubitschek, einer der Vordenker der neuen Rechten, gefragt - allem Anschein nach auch ein radikaler Ordoliberaler, der die autoritäre Option begrüßt.

Vielleicht muss man die inhärenten Widersprüche des neoliberalen Denkens als Konkretisierung jener Frage begreifen, die die Gestalt der neuen Autoritären selbst aufwirft. Und das ist schon längst die umfassendere nach unser aller öffentlichem Liberalismus-Schauspiel: Unerlässliches Intervenieren im Namen der Freiheit trifft darin unablässig auf Kritik, autoritäre Potenziale werden fortlaufend verwirklicht und stufen Demokratie auf den Status von steter Gefahr und uneinlösbarem Versprechen zurück.

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