Süddeutsche Zeitung

Nature Writing:Furchen tiefer Zeit

"Schiefern": Esther Kinsky führt mit ihrer Geländelyrik in steinige Ödnis und postindustrielle Landschaft.

Von Wolfgang Hottner

Esther Kinskys Schreiben hat eine besondere Affinität zum Gelände. Es führt sie nicht in Kulturlandschaften oder Metropolen, sondern ins unwegsame Hinterland. Seit ihrem Lyrikdebüt "die ungerührte schrift des jahrs" (2010) durchwandert Kinsky Übergangsregionen und liest dabei diejenigen Fragen auf, die Natur dort "gleich abseits des schritts" stellt, wie es programmatisch in "Naturschutzgebiet" (2013) heißt. Einem fortwährenden Trend in der deutschsprachigen Literatur folgend, könnte man das Projekt Nature Writing nennen oder wie Kinsky mit ihrem Buch "Hain", für das sie 2018 den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt, gleich selbst eine neue literarische Gattungsbezeichnung einführen: den Geländeroman.

Auch die Gedichte und Prosastücke in "Schiefern" führen auf abseitige Wege, diesmal in eine postindustrielle Wüste. Schauplatz dieser Geländelyrik sind die Slate Islands, Schieferninseln, eine zu den Inneren Hebriden gehörende Inselgruppe im Westen Schottlands. Bis zum Anfang des zwanzigsten Jahrhundert boomte dort der Abbau von Schiefer zu Herstellung von Dachziegeln. Heute sind die Inseln nur noch dünn besiedelt, die ehemaligen Steinbrüche geflutet und verlassen. Setzte die deutschsprachige Nature-Writing-Szene in den letzten Jahren überwiegend auf Lebendiges, auf Tiere, vor allem aber diverse Pflanzen und Bäume, betritt Kinsky hier thematisches Neuland: die bisher wenig beachtete Sphäre des Anorganischen steht in "Schiefern" im Zentrum.

Den drei Teilen des Buches ist jeweils eine Schwarzweiß-Fotografie vorangestellt: ein ehemaliges Schieferbergwerk, ein Schieferplattenstillleben sowie ein eher trostloses Seestück. So monoton wie die Fotografien erscheint auch das zerklüftete Gelände der Inseln: der Sommer dort "farblos", das Meiste "ausgegrünt".

"und dann wolken die gern violett / sein wollen so liegen die steine ..."

Inmitten dieser steinigen Ödnis, wo das "grau pulsiert", scheint jede Form der Lebendigkeit verschwunden, keine Menschen, wenige Tiere, bloß ein paar vereinzelte Pflanzen. Diese Landschaft klingt eigentümlich: "Störstufen in der oberfläche : halden, trümmerfelder, boden bedeckt mit schieferscherben: unter den schritten unablässiges klacken und knirschen, schlag-, schleif-, und reibelaute, metallisch hell die splittersprachige frage nach der größeren versehrung". Nur manchmal mischen sich weichere Zwischentöne in diese Kargheit und nur gelegentlich koloriert Kinsky das allgegenwärtige Grau: "und dann wolken die gern violett / sein wollen so liegen die steine / lila und blau und der rost leuchtet / schweflig wie aus verheißung".

In den Gedichten und Prosaminiaturen dominieren entfärbte "fastworte". Das Wahrgenommene sperrt sich gegen die lyrische Vereinnahmung und der Blick wendet sich nach Innen. Die Erkundung der stillgelegten Bergschächte wird damit auch zur Expedition in die Untiefen der menschlichen Erinnerung, einer unheimlichen Konfrontation mit über Jahrmillionen alter Materie, deren unendliche Dauerhaftigkeit alles Menschliche relativiert. So nah am "rand der furchen tiefer zeit" tut sich ein Abgrund auf, jene geologische Deep Time wird spürbar, die die Wimpernschläge des menschlichen Erinnerungsvermögens kleinlich erscheinen lässt.

Doch auch die Steine sind nicht ewig, schon gar nicht ein splittriges Sedimentgestein wie der Schiefer. Die Verwitterung, jenes "sanfte Gesez" (sic!), wie es Adalbert Stifter, einer der Gründerväter des Nature Writing, in seinem Vorwort zu den "Bunten Steinen" genannt hat, wird auch Kinsky zum Sinnbild für den unaufhaltsamen Lauf der Zeit: wenn alles Lebendige schon längst verschwunden sein wird, läuft die Abtragung, die Zersplitterung unerbittlich weiter. Das Einzige, was bleibt und immer schon da war, ist die "fortschreitende aushöhlung".

Wie Kinsky diese erosiven Kräfte auch auf ihre Sprache wirken lässt, ist bisweilen grandios. Die brüchigen Kanten des Schiefers gleichen dann den Versen und der Prosa, die "geborsten, gesplittert, geschuppt" daherkommt. Kinskys ungereimte Fragmente sind spröde, ihre "mundart schiefrig", der Sound dieser Lyrik sperriger Nachklang dessen, was eben nicht zu uns spricht. Das Grau des Schiefers übertüncht alles Lyrische, nur manchmal, wie das vereinzelt aufblühende Heidekraut, finden sich englische Wörter als florale Tupfer in diesen Versen.

Die Satzbruchteile der Erinnerungsvignetten und Exkurse zur Gesteinsnomenklatur sind durch monolithische Doppelpunkte getrennt, steinharte Fügungen entstehen: "Schiefer der metamorphit : ein unter einwirkung heftiger und plötzlicher veränderungen und veschiebungen tektonischer platten aus der vermischung unterschiedlicher erden entstandenes gestein: bleibendes zeugnis nie abgeschlossener verwandlung, unbesänftigter erschütterung, ungelinderer versehrung, stets zur zersplitterung bereit: zur offenlegung seiner inneren unzugehörigkeiten: der bleibenden versehrtheit verdankt der schiefer seine bezeichnung: ein splittergestein, ein schiefes schichtwerk aus einem alle namen verschlagenden eingriff in den stand der dinge."

Ganz ohne Menschen sind aber auch die Schieferninseln nicht. Doch sind es Untote, die Kinsky im zweiten Teil des Buchs zu Wort kommen lässt. Eine wahrscheinlich um die Jahrhundertwende entstandene, nicht abgebildete Fotografie einer Schulklasse dient als Vorlage, um die Schüler und Schülerinnen der Region ihr Weh klagen zu lassen. Es ist ein gespenstischer Chor, der in kindlichen Tönen singt, von toten Tieren träumend, vom allgegenwärtigen Schiefer und der Angst, zum "ichkristall" zu erstarren. Kinsky fügt fiktive Erinnerungen von ausgezehrten Kindern zusammen, Schicksale aus der Hochzeit englischer Industrialisierung.

Spätestens an dieser Stelle wird klar, dass Kinskys Lapidarium nichts mit Bergbauromantik zu tun hat. Der Schiefer, um den es hier geht und der die Inselbewohner bis in ihre Träume hinein verfolgt, ist in erster Linie Material, in rauen Massen zur industriellen Herstellung von Dachschindeln und Schreibtafeln abgebaut, eben kein strahlender Karfunkel aus magischen Arkanwelten. Doch auch die Einbettung in den industriegeschichtlichen Zusammenhang befreit das Gestein nicht von seiner stummen Rätselhaftigkeit.

Vor allem im dritten Teil wird das Buch dieser postindustriellen Natur zwar sehr oft und an diversen Stellen aufgeschlagen, letztlich aber nur schwer lesbar. Immer wird wieder das Scheitern der Entzifferung des "lesegesteins" in Szene gesetzt, doch weder die blasse Kreideschrift auf den Schiefertafeln der Schreibschüler, noch die versteinerten "Schrifttierchen", die sich im Kambrium sterbend auf den Schiefer geprägt haben, erschließen sich.

Von Unkenntlichkeit und Unlesbarkeit, von Unwirtlichkeit und "Unbehausbarkeit" ist die Rede. In den Negationskaskaden wird eine implizite Prämisse dieser Naturbegegnung deutlich. Auch wenn nach den Gräsern und Blumen, Bienen, Aalen und Habichten in "Schiefern" nun die unbelebte Natur zum Gegenstand des Nature Writing gemacht wird, ist diese Natur, in ihrer urzeitlichen sowie postindustriellen Ausprägung eben vor allem eine negative: an-organisch, stete Verneinung und immerwährende Nachtseite allen Lebens.

Diese unausgesprochene und doch stets präsente Vorannahme führt dazu, dass dem Gestein insgesamt nur wenig abzutrotzen ist. Zwar hütet sich Kinskys Geländelyrik vor romantischem Steingeflüster, und auch von Roger Caillois' surrealistischer Mythologisierung des Anorganischen und dem damit verbundenen todestriebhaften Wunsch, selbst Stein zu werden, hält sie gehörigen Abstand. Doch während Caillois die Dichotomie zwischen Organischem und Anorganischen immerhin in Frage zu stellen versucht hat, bleibt diese (ontologische) Grenze in "Schiefern" weitgehend intakt. Zwischen dem Lebendigen und seinem Gegenteil besteht ein wesentlicher Unterschied und eine zumindest durchschimmernde Präferenz für das Lebendige.

Die Grenze zwischen dem Organischen und dem Anorganischen bleibt intakt

Die schiefrig-toten Gestalten wirken bei Kinsky daher allzu oft wie weltlose Gespenster, die in ihrer starren Gewordenheit dem lebendig Werdenden bloß schweigend entgegenstehen. Fast möchte man einem Aphorismus des späten Goethe Glauben schenken, der sich selbst nach Jahren der Geologiebegeisterung irgendwann auch von den Steinen abgewandt hat: "Steine sind stumme Lehrer; sie machen den Beobachter stumm, und das Beste, was man von ihnen lernt, ist nicht mitzuteilen."

Auch Kinskys Geländelyrik verstummt schließlich. Am Ende wirken die Schieferninseln wie ein öder Landstrich, über den nichts mehr zu sagen ist, vielleicht auch an sich wenig zu sagen war, wie Einheimische versichern: "why come here sagt die frau am steg / sie fasst die scherbentasche fester / das bruchwerk leuchtet die inseln ferngerückt / a broken place man rette seine haut / vor all den narben die hier möglich sind." Die letzten drei Gedichte inszenieren konsequenterweise eine "Abkehrung", die Flucht vor der trostlosen Unwirklichkeit des Anorganischen. Zumindest ein Vogel ruft noch hinterher, aber auch dieser Ruf ist kein Gesang, "mehr ein wimmern / ein schriller klageton".

Esther Kinsky: Schiefern. Gedichte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 103 Seiten, 24 Euro.

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SZ vom 08.04.2020
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