Nationalismus:Was das Volk von der Nation unterscheidet

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Pegida-Kundgebung in Dresden (Archivbild): Die Liebe zum eigenen Volk stand einmal in enger Verbindung mit der Hochschätzung aller anderen Völker. (Foto: dpa)

Soll man sich empören, wenn Frauke Petry das "Völkische" aufwerten will? Nein. Aber man darf das Nationale nicht den Rechten überlassen.

Von Gustav Seibt

Soll man sich jetzt darüber aufregen, dass Frauke Petry und Teile der AfD den Begriff des "Völkischen" wiederaufwerten und vom Vorwurf des Rassismus befreien wollen? Ach nein, der sprachgeschichtliche Befund ist zu eindeutig; Frauke Petry wird ihn nicht ändern. Aber man kann den Anlass nutzen, das Nationale vom Völkischen zu unterscheiden. Denn es gibt keinen Grund, den Begriff der Nation und des Nationalen den Rechten zu überlassen, trotz allen Missbrauchs, der damit getrieben wurde. "Völkisch" nämlich ist, Rasse hin, Volk her, nur die kleine aggressive Schwester des Nationalen, dessen ewige schlechtere Möglichkeit. Denn der Missbrauch des Nationalen lief immer darauf hinaus, dass der Begriff der Nation zu völkisch verstanden wurde.

Die Nation war an ihrem Beginn in der Französischen Revolution ein politisch fortschrittlicher, egalitärer Begriff, das Versprechen auf Gemeinschaft jenseits der Klassenschranken. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit waren die Ideale, die sie vereinen sollten. Die Nation, das war 1789 die Gesellschaft derer, die sich unter dem Gesetz der Menschenrechte eine Verfassung in einem einzelnen Land gaben.

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Die AfD-Chefin findet, eine Gleichsetzung der NS-Vokabel mit dem Wort "rassistisch" sei eine Verkürzung.

Nation war also der übergreifende Gegenbegriff zur feudalen Ordnung der Stände, der Privilegien, der hierarchisch gestuften Gesellschaft. Als Bürger sollten die Franzosen fortan alle gleichermaßen Kinder des Vaterlands sein - die große Gemeinschaft orientierte sich immer noch an der patriarchalischen Familie, den Vorvätern und Brüdern, Toten und Lebendigen. Ein schöner Gedanke, der mit einer (vorerst männlich dominierten) Demokratie umstandslos harmonierte.

Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit können nicht an der Grenze halt machen

Selbstregierung Freier und Gleicher in einem gegenwärtigen Kommunikationsraum mit vielen erhabenen oder auch schmerzhaften Erinnerungen - das bleibt bis heute ein schönes, flexibles und auf lange Sicht auch wirklichkeitsnahes, weil zwangloses politisches Ideal. Der von Dolf Sternberger entworfene, von Jürgen Habermas übernommene Begriff von Verfassungspatriotismus verdeutlicht dieses Moment von selbstgesetzter und gelebter Ordnung, die zur Quelle des Stolzes werden kann, weil sie auf einem beispielhaft prägnanten Text beruht. Dieser Text, so der Gedanke, zieht Lehren aus der Geschichte, bei uns aus einem verheerenden Missbrauch der Idee des Nationalen. Deshalb ist der Verfassungspatriotismus ein bisschen weniger bodenständig als frühere Ausformungen des revolutionären Nationalgedankens.

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit aber können an den Grenzen einer Nation auf Dauer prinzipiell nicht haltmachen, auch das stand den Gründern dieser politischen Form von Anfang an vor Augen. Im Übrigen waren es nicht zuletzt deutsche Zeitgenossen der Französischen Revolution wie Immanuel Kant, Friedrich Schiller und Ludwig van Beethoven, die diese Konsequenz zogen: Alle Menschen werden Brüder. Es war darüber hinaus aber eine besondere Leistung des deutschen historisch-politischen Denkens um 1800, dass es auch sagen konnte: Alle verschiedenen Menschen werden Brüder.

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Johann Gottfried Herder und nach ihm die Romantiker erkannten die Unterschiedlichkeit der Völker und ihrer Sprachen als anthropologischen und kulturellen Reichtum. Völker waren, so sagte es der Historiker Leopold von Ranke, "Gedanken Gottes" und deshalb jedes für sich wertvoll. Dabei wussten diese Denker natürlich, dass solche reiche Verschiedenheit durchaus konfliktträchtig bis zum Nationalhass sein konnte. Genau darum untersuchten und rühmten sie aber die wechselseitigen Beeinflussungen und Mischungen zwischen den Nationalkulturen, bis zu Goethes spätem Konzept einer "Weltliteratur" als Raum des globalen Austausches.

Hier sollte alles rein Nationale wieder überstiegen werden, ohne es deswegen zu verleugnen. Noch der letzte bedeutende Erbe dieser Denktradition, der überaus national gesinnte, aus einer jüdischen Familie stammende Dichter Rudolf Borchardt (1877 bis 1945) beharrte auf einem Bild der Weltgeschichte als Abfolge von Mischungen, Kreolisierungen, Einflussnahmen und Neubildungen. "Nation" verkörperte für Borchardt Geschichte und Tradition, "Volk" dagegen war ihm nur die pure Gegenwart zufällig gleichzeitig am selben Ort Geborener, am Ende ein Begriff der Zoologie, des Menschen also nicht würdig.

So wurde das Wort "völkisch" spätestens seit der Wende zum 20. Jahrhundert durchweg gebraucht. Es steht für eine Vorstellung von Gemeinschaft, in der die politischen Ideale von Gleichheit und Brüderlichkeit nur innerhalb der eigenen Gruppe gelten, aber nicht zwischen den Völkern. Menschheit und Humanität spielen in diesem Denken keine Rolle. "Völkisch" war immer partikular, gebunden an die Abstammungsgemeinschaft, während das Nationale der Französischen Revolution ursprünglich eine universale politische Form ist - in seiner Reinform eine Willensgemeinschaft mehr als eine Schicksalsgemeinschaft und darum offen für neue Bürger.

So sagt es die Definition von Ernest Renan, der die Nation ein "tägliches Plebiszit" nannte und damit als immer wiederkehrende freie Übereinkunft beschrieb. Das ist, als Ideal oder regulative Idee, dann ziemlich genau das Gegenteil von Familie, Stamm, Blutsverwandtschaft und Abstammungsrecht. Dass auch solche Willensnationen besser funktionieren, wenn sie in den eingeübten Lebensformen und lebendigen Traditionen einer gemeinsamen Geschichte ruhen, bleibt unbenommen.

Die Identitären erklären komplexe Kulturnationen zu Völkern

Die einen Gedenken ihrer Siege und Revolutionen, die anderen auch ihrer Untaten, erstaunlicherweise mit ähnlichem integrierendem Effekt. Giftig und hassträchtig kann solcher Bezug auf Kultur und Tradition werden, wenn er zu einem Kult des "Eigenen" wird, das Fremden angeblich nicht zugänglich sei. Die Selbstvergottung bleibt die ewige Versuchung des Nationalen, und natürlich waren auch die Franzosen der Revolution nicht gegen sie gefeit.

Der gedankliche Trick der neuen "identitären Bewegung", die heute das aufgefrischte Völkische de luxe darstellt, besteht nun darin, dass sie alte, komplex zusammengesetzte Kulturnationen zu Völkern erklärt, also zu Naturwesen, die am besten unvermischt nebeneinander bestehen. So wird ein moderner, lässiger Identitärer gewiss nicht von "Herrenrassen" oder "Untermenschen" reden, Gott bewahre. Er wird nur sagen, dass die Fremden nicht zu uns "passen" und besser ihre eigene Eigenart bewahren sollten. Diese Identitären sind auf ihre Weise durchaus für die Gleichheit der Verschiedenen, aber nur auf der Ebene der in sich möglichst rein zu erhaltenden, getrennt bleibenden Völker und Kulturen. Innerhalb der Völker dagegen soll es bei der Gleichheit der Gleichen bleiben, ohne Mischungen oder Einflüsse von Fremden.

"Identitär" ist daher die eigentliche postmoderne Verkleidung für das alte "völkisch". Es ist also überflüssig, sich aufzuregen, wenn Frauke Petry wieder "völkisch" fühlen will. Damit gibt sie eine willkommene Auskunft über ihr Denken. Ob man das rassistisch nennt, ist fast gleichgültig, denn auf jeden Fall läuft es auf die Verabschiedung einiger der besten Teile der deutschen Tradition hinaus: Diese erfand in Aufklärung und Historismus die Liebe zum eigenen Volk in enger Verbindung mit der Hochschätzung aller anderen Völker. Mit diesem Erbe haben die heutigen identitären Rechten nichts zu schaffen.

So wirkt es nur komisch, wenn der AfD-Redner Björn Höcke auf dem Magdeburger Domplatz "Geschichte atmet" und den seit 1043 Jahren toten Otto den Großen duzt: "Otto, ich grüße dich!" Oder wenn auf einem Youtube-Kanal ein junger österreichischer Identitärer in einem Wald sitzt und Hugo von Hofmannsthals Aufsatz über Beethoven vorträgt. Der mittelalterliche Herrscher nämlich verstand sich als Römischer Kaiser, der nichts Besseres zu tun fand, als seinen Sohn mit einer byzantinischen Prinzessin zu verheiraten. Und der Dichter Hofmannsthal, ein wahrer Kulturmischling der Habsburgermonarchie, rühmte den Komponisten der mitreißendsten Revolutionsmusiken - was sollte daran völkisch, identitär sein?

© SZ vom 14.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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