Nationale Identität:Die Zukunft wird bunt

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Das ist Deutschland: Neuankömmlinge mögen das Land von Herzen gern. (Foto: Johannes Simon)

Nach den USA ist Deutschland das zweitgrößte Einwanderungsland der Welt. Chance oder Risiko? Auf jeden Fall eine Gelegenheit, sich neu zu erfinden.

Von Andrian Kreye

Deutschland ist also Einwanderungsland. Das überrascht eine Bevölkerung, die sich oft so schwer tut mit dem eigenen Land und der nationalen Identität, die sich in Reality-Serien vorspiegelt, alle wollten doch nur weg und niemand her, und die sich nun nach den jüngsten Einwanderungszahlen der OECD plötzlich in direkter Nachbarschaft zu Amerika findet, jenem Land, das allen Ankömmlingen seine Gastfreundschaft schon in der Bucht des Hudson River mit der Freiheitsstatue zeigt.

Noch erstaunlicher ist in einem Land, das sich selbst so wenig liebt wie die Bundesrepublik, dass all die Neuankömmlinge laut einer Untersuchung der Humboldt- Universität Berlin dieses Land von Herzen mögen. Nun bestätigen Zahlen nur einen Zustand. Und doch stellen diese Statistiken das Selbstverständnis eines Landes infrage, das sich selbst oft als so abweisend empfindet.

Der Unterschied zu Amerika: Liebe

Den entscheidenden Unterschied zwischen den Einwanderungsländern Amerika und Deutschland kann man ganz direkt erleben. Zum Beispiel, wenn man einen vierten Juli in Amerika erlebt, jenen Unabhängigkeitstag, der mit Feuerwerk und Grillpartys gefeiert wird. Es mag ein emotionaler Ausnahmezustand sein, wenn Ray Charles aus dem Radio erklingt und die Musicalschnulze "America, the beautiful" anstimmt. Dann umarmt sich allen Bürgermilizen an der mexikanischen Grenze, allen rechtskonservativen Pöblern im Kabelfernsehen, allen Alltagsgehässigkeiten zum Trotz ein Land, das alle Menschen im Land zumindest in der Gefühlsaufwallung zu sich zählt. Selbst die ohne gültige Papiere.

Was hinter dieser Stimmung steht, ist aber nicht nur die Heimatlosigkeit, die alle Amerikaner je nach Abstammung und mit Ausnahme der Ureinwohner ein paar Jahrhunderte oder auch nur ein paar Wochen gemeinsam haben. Es ist eine Verbundenheit zum eigenen Land, die nicht auf so abstrakten Dingen wie der Verfassung, der Flagge und der Hoffnung auf ein besseres Leben gegründet ist, und auch nicht nur auf Herkunft, Boden oder den historischen Wurzeln. Es ist vor allem die Bereitschaft, die Wurzeln hinter sich zu lassen und damit auch die eigene Kultur.

Europa fürchtet die "Kulturlosigkeit"

Europa war diese vermeintliche Kulturlosigkeit immer ein Grauen. Dabei gründet sich diese Loslösung auf handfeste philosophische Werte. Es sind die Konzepte der Postnationalität, der postethnischen Gesellschaft und des Postkulturalismus, die hier geprobt werden. Das sind in letzter Instanz radikale Gleichheitsgedanken. Und doch liegt darin ein Weg, der einer Einwanderungsgesellschaft helfen kann, sich mit dem permanenten Wandel der eigenen Identität auseinanderzusetzen.

Die Bedingungen dafür sind in Deutschland denkbar gut. Es gab in den letzten Wochen ja noch ein paar Zahlen zum Thema. So erwirtschafteten die 6,6 Millionen Bewohner Deutschlands ohne deutschen Pass einen Überschuss von 22 Milliarden Euro. Die eingebürgerten Eingewanderten sind da noch gar nicht mitgezählt. Außerdem liegt der Akademikeranteil der Eingewanderten bei 29 Prozent - zehn Prozentpunkte über dem Schnitt der Gesamtbevölkerung.

Wenn also die wirtschaftlichen Vorurteile der Populisten so nachhaltig entkräftet sind, kann man sehr viel optimistischer über die Folgen für die Identität nachdenken. Und weil Amerika da so einen Vorsprung hat, wird man dort auch fündig.

Es ist 22 Jahre her, dass der kanadische Philosoph Charles Taylor mit seinem Essay "The Politics of Recognition" (Die Politik der Anerkennung) den Multikulturalismus infrage stellte. Er etablierte den Widerspruch zwischen Gleichwertigkeit und Identität. Nicht die Toleranz, sondern die Anerkennung, wenn nicht sogar der Schutz authentischer Identitäten garantiere die Grundlage für eine gerechte Gesellschaft.

Darf man eine Kultur untergehen lassen? Aber ja

Taylors Essay stieß damals eine heftige philosophische Debatte an. Jürgen Habermas verfasste einen Kommentar, der deutlich machte, dass es keineswegs ausreiche, wenn alle Bewohner eines Staates vor dem Gesetz gleich seien. Sie müssten vielmehr zu Autoren ihrer Gesetze werden, um wirklich Teil einer Demokratie zu werden. Nur der Diskurs der Gesetze könne dies gewährleisten. Diese Konsensfindung aber könne das Überleben der einzelnen Kulturen nicht garantieren.

Der Philosoph Kwame Anthony Appiah forderte gar eine Bereitschaft, Kulturen untergehen zu lassen. Jede Kultur, egal ob nationaler, religiöser, ethnischer oder sexueller Natur, verlange von ihren Vertretern, sich einem Verhaltenskodex zu unterwerfen. Das aber widerspreche der wahren Freiheit einer individuellen Identität, die sich von solchen Zwängen lösen muss, um dem Einzelnen zu erlauben, seine eigene Lebensgeschichte zu verfassen. Bald folgte der Essay "Postethnic America" des Historikers David Hollinger, der aus dieser Überwindung des Multikulturalismus einen universalen Gedanken der Nation einforderte, der auf freiwillig angenommenen, nicht angeborenen Identitäten beruht.

Lernen von Syrien

Was hier bei allen Reduktionen im Ansatz anklingt, ist ein Beginn der Loslösung von den Konzepten der sozialen und kulturellen Grenzen. In Deutschland sind solche Debatten selten. Und doch kann dieser Moment, an dem all diese freundlichen Zahlen der gesellschaftlichen Gegenwart die Grundlage für unbeschwerte Überlegungen sein können, zu einem Wendepunkt in der Selbstwahrnehmung der Deutschen werden. Für Leitkulturen ist in einer solchen Welt kein Platz.

Allein die jüngste Flüchtlingswelle zeigt, dass Veränderungen nicht nur in Wirtschaft und Gesellschaft anstehen. Mit den Flüchtlingen aus Syrien kommen Menschen, die einen enormen Bildungsstand und zugleich einen ganz anderen Hintergrund haben. Wer in Damaskus aufwuchs, der wurde von einem Knotenpunkt der arabischen, russischen und mediterranen Philosophien geprägt. Es wäre eine von vielen verpassten Chancen, sich dem nicht zu öffnen.

© SZ vom 04.12.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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