Nathaniel Richs Roman "King Zeno":Vor dem Sturm

TROLLMAN

Überflutetes New Orleans: 2005 drückte der "Industrial Canal" das Wasser wie ein Trichter in die Stadt.

(Foto: CHARLIE RIEDEL/AP)

Nathaniel Richs Roman "King Zeno" erzählt vom Bau des "Industrial Canal" in New Orleans, der knapp 100 Jahre später die Stadt verwüsten wird. Eine brillante Erzählung vom Drama kollektiver Entscheidungen.

Von Jörg Häntzschel

Wir sind in New Orleans, das Jahr ist 1918, und die Spanische Grippe wütet. Doch was den Menschen in Nathaniel Richs meisterhaftem Roman "King Zeno" noch mehr Angst macht als das tödliche Fieber, ist der "Axtmörder", der in monströser Unbeirrbarkeit harmlose Bürger heimsucht und abschlachtet. Warum muss es die Axt sein, warum reicht nicht eine Kugel?, fragen sie sich und finden keine Antwort. Er ist nicht einfach ein Killer, die kennt man in New Orleans, er ist ein Ungeheuer.

Dieser die ganze Stadt aufwühlende kollektive Albtraum führt in Richs Geschichte drei Figuren zusammen, die sonst nichts eint: Da ist der Titelheld Isadore Zeno, ein schwarzer Kleinkrimineller und Jazzmusiker, der seinem Kornett Töne entlocken kann wie nicht von dieser Welt - nur weiß davon fast niemand. Da ist Bill Bastrop, traumatisierter Kriegsheimkehrer und Polizist. Und da ist die aus Sizilien stammende ruchlose Matriarchin Beatrice Vizzini, die mit gewalttätiger Unterstützung ihres Sohns einen Mafia-Clan anführt.

Alle drei schleppen schweres inneres Gepäck durch die drückende Schwüle. Isadore fürchtet, sein ehemaliger Gangsterfreund Bailey könnte ihn verpfeifen, um damit der Todesstrafe für einen Polizistenmord zu umgehen. Bastrop verfolgen - und nicht nur im Geist - die Kriegskameraden, die in dem einstürzenden Unterstand an der Westfront begraben wurden, aus dem er sich gerade noch retten konnte. Beatrice muss sich eingestehen, dass ihr Sohn zu nichts taugt außer Mord und Schutzgelderpressung - und fürchtet, sie selbst könnte zu seinem nächsten Opfer werden.

Solide Existenz: Familie gründen und am Feierabend Jazz

Nachdem sie sich ihres Ehemanns entledigt hat, denkt sie nun richtig groß. Sie hat ihrer Firma mit skrupellosen Methoden den Auftrag für den Bau des Industrial Canal gesichert, der den Mississippi mit dem nahen Lake Pontchartrain verbinden und den Hafen von New Orleans zu einem der ganz großen machen soll.

Auch Isadore verspricht sich viel von dem Kanal. Er macht Schluss mit den Überfällen und heuert auf der Baustelle an. Solide Arbeit, solide Existenz, Familie gründen, und am Feierabend Jazz, so malt er es sich aus. Doch es kommt erst mal anders.

Der 1980 geborene New Yorker Autor Nathaniel Rich hat seinen erst jetzt auf Deutsch erschienenen dritten Roman schon 2018 geschrieben. Weltweit bekannt wurde er aber 2019 mit seinem Non-Fiction-Band "Losing Earth". Er beschreibt darin, wie in den Achtzigerjahren die Warnungen der Wissenschaft vor dem Klimawandel ignoriert und unterdrückt wurden, und so die letzte Gelegenheit ungenutzt blieb, ihn noch rechtzeitig abzuwenden.

In New Orleans wird gerade der unheilvolle "Industrial Canal" gebaut

Ein fataler historischer Fehler war auch der Bau des Industrial Canal. Als 2005 der Hurrikan "Katrina" über New Orleans wütete, schoss das Wasser aus dem Golf von Mexiko und dem Pontchartrain-See wie durch einen Trichter durch den Kanal nach New Orleans. 80 bis 90 Prozent des Stadtgebiets wurden überflutet, etwa 1500 Menschen starben. Der Leser weiß es, der Autor weiß es. Doch für seine Protagonisten ist das Unheil, das der Kanal der Stadt einmal bringen wird, vorerst nur eine dräuende, vage Vorahnung.

"King Zeno" ist nicht nur ein packender Krimi, es ist auch ein historischer Roman: Die Morde fanden tatsächlich statt, das belegen die teils lakonischen, teils reißerischen Berichte aus der New Orleans Times-Picayune und dem New Orleans Item, die Rich seiner Erzählung voranstellt. Doch was ihn hier - wie in "Losing Earth" - außerdem interessiert, ist das Drama kollektiver Entscheidungsprozesse.

Nathaniel Richs Roman "King Zeno": Drastische Schilderungen: der amerikanische Autor Nathaniel Rich.

Drastische Schilderungen: der amerikanische Autor Nathaniel Rich.

(Foto: JOEL SAGET/AFP)

Welche Experten werden gehört und welche verschwinden spurlos? Welche Ansichten zählen, weil sie als "wissenschaftlich" gelten, und welche werden als subjektiv, abergläubisch, irrelevant abgetan? Welche unerwarteten Folgen können kleinste Ereignisse haben? Richs Figuren sind Mitwirkende in diesen komplexen Prozessen - aber auch deren Produkte.

Die Figuren quält das Gefühl, mit ihrer Arbeit Unrecht zu tun

Isadore und die anderen Kanalarbeiter gehen halb kaputt an der Knochenarbeit. Das Sumpfgas lässt sie schwindeln. Sie nehmen den Gestank von Fäulnis abends mit ins Bett, weil er von ihren Körpern nicht abzuwaschen ist. Und immer fürchten sie, auszurutschen und in den gurgelnden Rachen der Maschine zu geraten, die den Schlamm aus der Grube saugt.

Doch was sie ebenso quält, ist das unbestimmte Bewusstsein, mit ihrer Arbeit Unrecht zu tun. Sie vergehen sich an der Erde, indem sie das System aus Marschland, Sümpfen und Sandbänken zerstören, die der Mississippi über Jahrmillionen geformt hat. Und sie vergehen sich an der Zeit, in dem sie sich aus der Ödnis des gerodeten Lands immer tiefer in Schicht um Schicht verschütteter Urzeitwälder hinunterwühlen und jahrtausendealte Baumstämme schreddern.

Sie fördern Reste von Glyptotherien zutage, Riesengürteltieren, die vor 12 000 Jahren ausgestorben sind, aber auch namenlose Leichen, die hier erst seit ein paar Tagen liegen. "Dieser Kanal", entfährt es dem Polizisten später, "der Mensch hat nicht die Aufgabe, Flüsse zu erschaffen. Die Vergangenheit auszugraben." Isadore hatte auf eine ehrliche Arbeit gehofft, er hat sie nicht gefunden.

Sind historische Romane nicht auch eine Art Raubbau an der Vergangenheit?

In seinen Essays wie in seinen Romanen gräbt Rich nach den Wurzeln von Phänomenen, die erst später Form annehmen und Namen erhalten. Lange vor dem Ende des Holozäns lässt er auf der Kanalbaustelle das Anthropozän beginnen. Die Wut, die seine schwarzen Charaktere 1918 auf den Rassismus empfinden, wird man 100 später "Black Lives Matter" nennen. Zwei Jahre nach dem Erscheinen von "King Zeno" kommt nun noch ein weiteres Déjà-vu hinzu: Seine drastischen Schilderungen von überfüllten Krankenhäusern und hoffnungslosen Grippeopfern nehmen vieles von dem vorweg, was im Corona-Jahr ein zweites Mal passierte.

Hier und dort trägt er dabei ein bisschen dick auf. Ist das nicht auch eine Art Raubbau an der Vergangenheit, wenn man sie so großzügig für heutige Zwecke benützt? Streckenweise verblassen auch die Geschichten seiner Figuren vor lauter Mentalitäts-, Sozial- und Jazzgeschichte. Doch all das ist spätestens dann verziehen, wenn es Rich am Ende auf furiose Weise die vielen, vielen Akteure und Motive seines Romans zu einem atemberaubenden Finale gemeinsam auf die Bühne bringt: "Angeblich lebten und arbeiteten alle Marsbewohner, gleich welcher Hautfarbe, friedlich zusammen. Tanzten sie auch gemeinsam zum Klang der Gestirne? Denn genau das tat man an diesem Abend im Cosmopolitan Club." Dass das Rich erst gelingt, nachdem er die vergilbten Zeitungsartikel vom Schreibtisch geräumt hat, akzeptiert man gerne.

Nathaniel Rich: "King Zeno". Aus dem Englischen von Henning Ahrens. Rowohlt Berlin, Berlin 2020. 448 Seiten, 24 Euro.

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