Nathaniel Rich: "Die zweite Schöpfung":Natürliche Zombies

Nathaniel Rich: "Die zweite Schöpfung": Weltkulturerbe Artensterben: Zwei tote Haie in einem verwaisten Fischernetz in der Nähe von Wolf Island, einer kleinen Insel im Norden des Galápagos-Archipels.

Weltkulturerbe Artensterben: Zwei tote Haie in einem verwaisten Fischernetz in der Nähe von Wolf Island, einer kleinen Insel im Norden des Galápagos-Archipels.

(Foto: Norbert Probst/Imago/Imagebroker)

Nathaniel Rich will sich nicht mehr über die Zerstörung des Planeten empören. Er will wissen, wie die Menschheit das Verlorene ersetzen könnte.

Von Burkhard Müller

Sie war einst das zahlreichste Landwirbeltier auf Erden: die Wandertaube, die in Schwärmen von Milliarden Individuen über Nordamerika hinwegzog, den Himmel auf Tage verdunkelnd, und die in Kolonien, die sich über Tausende Quadratkilometer erstreckten, so dicht an dicht brütete, dass die stärksten Äste von den Bäumen krachten. Nach kaum einem halben Jahrhundert war davon, nachdem die Vögel massenweise als billige Speise genutzt, zum Spaß abgeschossen und ihre Brutbäume mit Dynamit gesprengt worden waren, nur noch ein einziges Exemplar übrig: Martha, im Zoo von Cincinnati, die die Kinder mit Sand bewarfen, um das apathische Tier in Bewegung zu setzen. Dann starb auch sie, im Sommer 1914, der in mehr als einer Hinsicht das Ende einer Epoche besiegelte. Nie hat der Mensch spektakulärer ins Dasein der Natur eingegriffen als mit diesem Akt totaler Vernichtung des scheinbar Unerschöpflichen. Man vernimmt es mit Scham und Beklemmung.

Oder auch mit dem wilden Entschluss, das Unwiederbringliche dennoch zurückzuholen. So ergeht es Ben Novak, der, als er im Alter von 16 Jahren eine ausgestopfte Wandertaube sieht, sprachlos auf die Knie sinkt und sich schwört, diesen Tod nicht auf sich beruhen zu lassen. Sein ganzes begeistert-verzweifeltes Streben geht von nun an dahin, dass die Wandertaube aufersteht. Gibt es heute nicht Gentechnologie und kann man nicht Embryos nach Belieben manipulieren? Wenn man all das trickreich verbindet, die DNA der Museumspräparate extrahiert, die verwandte Bandtaube als Leihmutter einsetzt - könnte Martha dann nicht von Neuem leben?

Kann es denn gelingen, die Wandertaube neu zu erschaffen?

In sehr persönlicher Form erzählt der 1980 geborene amerikanische Journalist Nathaniel Rich Geschichten von der "zweiten Schöpfung", wie der Titel seines Buchs lautet. Er hat diese Reportagen für das Magazin der New York Times verfasst, für Men's Journal, den Atlantic und andere Zeitschriften. Mit dem Buch "Losing Earth", in dem er die These vertrat, in den Achtzigern hätte das Schicksal der Erde noch gewendet werden können, gelang ihm ein Weltbestseller. Nunmehr ist er einen Schritt weiter: "Wie der Mensch die Natur für immer verändert", lautet der Untertitel diesmal, "Scenes from a World Remade". An die Stelle der Klage über den Verlust tritt die Neugier, was künftig das Verlorene ersetzen wird.

Kann es denn im eigentlichen Sinn gelingen, die Wandertaube neu zu erschaffen? Wird, was immer aus den manipulierten Eiern schlüpft, tatsächlich die alte Spezies sein, oder bloß eine raffinierte Kopie, um nicht zu sagen Fälschung? Wären diese Kreaturen etwas anderes als Zombies oder eine Art Berliner Stadtschloss der Natur? Sollte die Gentechnik der Menschheit dieses billige Alibi verschaffen, das sich wie üblich an ein paar Vorzeigespezies hängt (wie den Panda) und die gegenwärtige extinktorische Katastrophe durch punktuelle "Deextinction" bemänteln? Fänden denn die neuen Tauben überhaupt noch ihre alte ökologische Nische, wo doch der einst dicht bewaldete Osten der USA inzwischen grundlegend umgeformt ist?

Nathaniel Rich: "Die zweite Schöpfung": Nathaniel Rich: Die zweite Schöpfung. Wie der Mensch die Natur für immer verändert. Aus dem Englischen von Thomas Gunkel. Rowohlt Berlin, 2022. 320 Seiten, 24 Euro.

Nathaniel Rich: Die zweite Schöpfung. Wie der Mensch die Natur für immer verändert. Aus dem Englischen von Thomas Gunkel. Rowohlt Berlin, 2022. 320 Seiten, 24 Euro.

Rich macht sich die Haltung des Wissenschaftlers Steward Brand zu eigen: Die alte Empörung darüber, dass der Mensch sich zum Schöpfergott aufschwinge, habe ausgedient; und da er, der Mensch, nunmehr ganz und gar in diese vormals göttliche Position eingetreten sei, habe er keine Wahl, als seine schöpferische Aufgabe gut zu machen.

Bloß, was heißt das: gut? Das längste und komplexeste Stück des Buchs hat es mit dem Delta des Mississippi zu tun, einer außerordentlich wandlungsfähigen Landschaft, in der die menschlichen Kontrollmaßnahmen in nur 100 Jahren zu Konsequenzen in riesigem Umfang geführt haben, besonders nach dem Hurrikan Katrina. Rich entwirft ein Bild der politischen Korruption im Staat Louisiana, der den Öl- und Gaskonzernen hörig ist, verschafft aber darüber hinaus auch anderen Stimmen Gehör.

Wenn man New Orleans schützen will, muss es dem durch Dämme eingeengten Mississippi wieder erlaubt werden, Sedimente aufzuschütten und das amphibische Marschland zu erweitern - aber das wiederum führt unausweichlich zur Aussüßung der betroffenen Flächen und dem Niedergang der zugehörigen Ökosysteme. Die wütenden Fischer, die erleben müssen, wie ihre Austernbänke den Bach runtergehen, tragen ihre Argumente mit derselben Überzeugungskraft vor wie die Deichbau-Ingenieure, die in großen Räumen und langen Zeiten denken. Beide wollen die Umwelt schützen und erhalten - aber was für eine Umwelt? Schon haben die Maßnahmen der Landrückgewinnung ein Areal von wildester Lebendigkeit hervorgebracht. Aber es ist eine Natur von menschlichen Gnaden. Natur, sagen einige, sei alles, was der Fall ist, einschließlich des Menschen. Also wäre alle Transformation einschließlich der Zerstörung auch Natur? Das ist es jedenfalls nicht, was sich ein Naturschützer unter Natur vorstellt.

Noch in einer Milliarde Jahren wird das Spektrum der Lebewesen die Spuren der heute geschlagenen Lücken aufweisen

Rich hat als Darstellungsform die Reportage gewählt. Das funktioniert oft erstaunlich gut. Für das, was es zu sagen gibt, wählt er sich eine markante Figur vor Ort, öfters auch zwei oder drei, die das Problem von verschiedenen Seiten beleuchten und damit dessen Ambivalenz zum Vorschein bringen. So erhält nicht nur der Wandertaubenenthusiast das Wort, sondern auch sein Kritiker, und nicht nur der Ingenieur, der New Orleans zu schützen hat, sondern auch der fürs große Ganze geopferte Fischer.

Auf dieser diskursiven Höhe bewegt sich der Sammelband freilich nicht immer. Der erste Text etwa, in dem es um die Machenschaften des Chemiekonzerns DuPont in der Company Town Parkersburg, West Virginia, geht, ist ein recht simpel gestrickter Fall von Aufdeckungsjournalismus. Auch das ist aufschlussreich und verdienstvoll, gehört aber schwerlich in die Kategorie "zweite Schöpfung". Ähnliches gilt für ein ominöses Gasleck in Südkalifornien. Und einer Story über den pandemischen Untergang der Seesterne an der amerikanischen Pazifikküste fehlt irgendwie die Pointe - möglich, dass der Mensch schuld ist, möglich aber auch, dass hier sozusagen ein Heimspiel der Natur vorliegt. Ebenso wenig lässt sich die Entdeckung, dass bestimmte Quallen in gewissem Sinn ewig zu leben vermögen, indem die erwachsenen Tiere wieder zu ihrer Larvenform regredieren, als menschlicher Schöpfungsakt reklamieren: Da wurde ja bloß was entdeckt, was die Natur schon seit Jahrmillionen vermag und worin der Mensch sie noch nicht zu kopieren vermochte. Kann noch kommen; aber vorläufig sterben wir noch.

Insgesamt muss man dem Buch also bescheinigen, dass es weniger ist als die Summe seiner Teile. Das hebt allerdings seinen Wert nicht auf, denn jeder dieser Teile ist interessant und gut geschrieben; Rich beherrscht sein Handwerk gründlich, niemand muss Kauf und Lektüre bereuen. Die besten Stücke gelangen tatsächlich dorthin, wo der Titel es will.

Ein ernsthaftes Versäumnis muss man dem Buch trotzdem ankreiden. Seine zentrale und titelgebende These lautet, dass das, was heute geschieht, die Welt bis in fernste Zukunft prägen wird. Darum eben lebten wir im Anthropozän, so kurz es neben den anderen Erdzeitaltern auch ausfallen mag. Aber ihm fällt dafür kein stärkeres Beispiel ein als das "Plastiglomerat" aus Sand, Muscheln und dem geschmolzenem Kunststoff von PET-Flaschen und Bonbonpapierchen, das sich als Zeugnis unserer gemütlichen Strandfeuerchen in die Äonen der Geologie eintragen wird. Mag sein; aber die entsprechende Schicht wird sehr dünn geraten und sich in der Tiefe verbergen.

Was die gegenwärtige Menschheit der irdischen Ewigkeit hingegen wirklich antut, das ist die Vernichtung der Arten. Schon immer sind alle neuen Spezies ausschließlich aus den vorhandenen alten hervorgegangen; und noch in einer Milliarde Jahren wird das Spektrum der Lebewesen, so vielgestaltig es sich auch fortentwickeln mag, die Spuren der heute geschlagenen Lücken aufweisen. Freilich, Richs Gewährsmann rechnet mit der Auferstehung der Wandertaube; sie wäre dann eine "Lazarus-Spezies", von den Toten erweckt wie Lazarus durch Jesus. Aber schon die damaligen Augenzeugen rieten ab mit der Begründung: Herr, er riecht schon. Es ist kein massentaugliches und selbst im Einzelfall ein sehr fragwürdiges Konzept. Was der Mensch heute auslöscht, wird für immer weg sein. Dass die zweite Schöpfung ihre Basis in der existenziellen Negation hat: An diesen melancholischen Gedanken will der Autor nicht ran.

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