Süddeutsche Zeitung

Nadine Schneider: "Wohin ich immer gehe":Über Wasser bleiben

In Nadine Schneiders "Wohin ich immer gehe" flieht ein junger Mann vor der Ceauşescu-Diktatur und findet keine Ruhe.

Von Christoph Schröder

Nadine Schneiders Texte entfalten ihre Wucht auf unspektakuläre Weise. Auf den diesjährigen Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt las die 1990 geborene Schriftstellerin einen eleganten Wettbewerbsbeitrag, in dem so zeitgemäße Themen wie Heimat, Ankommen, Selbstvergewisserung und Fremdheitsgefühl offenbar zu beiläufig und dezent eingeführt wurden. Nadine Schneider jedenfalls schaffte es unverdientermaßen noch nicht einmal auf die Shortlist für den Ingeborg-Bachmann-Preis.

Die Eltern der Autorin kamen 1989 aus dem rumänischen Banat in die Bundesrepublik. Schneiders bemerkenswerter und mehrfach ausgezeichneter Debütroman "Drei Kilometer" ist ein Dorfroman aus der Endphase des Ceaușescu-Regimes, in dem die Erschütterungen der in Osteuropa einsetzenden Revolution bei der Landbevölkerung in sanften Wellen ankommen. Wie fein ihr Sensorium für untergründige Verstörungen ist, beweist Schneider nun auch in ihrem zweiten Roman: "Wohin ich immer gehe" verschiebt im Vergleich zum Vorgänger aber die Perspektive. Johannes, der Protagonist des neuen Romans, ein junger Mann noch, ist weitaus spröder, unzugänglicher, in seinen Reaktionen weniger berechenbar als Anna, die Hauptfigur von Schneiders Debüt. Johannes trägt, das ist von Beginn an deutlich spürbar, eine persönliche Last mit sich herum, die historisch determiniert ist und die sein Denken und Handeln bestimmt.

Im Jahr 1987 hat Johannes, mit dieser Szene eröffnet das Buch, am sogenannten Eisernen Tor, einer der engsten und für die Schifffahrt gefährlichsten Stellen der Donau im Grenzgebiet von Rumänien zu Serbien, den Fluss durchschwommen und ist über ein Auffanglager als Angehöriger der deutschen Minderheit schließlich in Nürnberg angekommen. Geplant war ursprünglich eine Flucht zu zweit, doch David, Johannes' bester Freund in seinem Heimatdorf im Banat, ist von einem auf den anderen Tag verschwunden. Mit ihm hatte Johannes den ganzen Sommer hindurch im Dorfweiher für die anstrengende Schwimmpassage trainiert; die Flucht war Davids Idee. Ob und durch wessen Schuld er für diese Idee bezahlt hat, ist eine der kalkulierten Leerstellen des Romans.

Das Erbe der Familie lässt sich nicht einfach ablegen, auch nicht mit räumlicher Distanz

Nadine Schneider erzählt in der dritten Person, aber stets nah am Bewusstsein ihres Protagonisten und dementsprechend auch in assoziativen, chronologischen Sprüngen. In der Gegenwart lebt Johannes in einer kahlen Wohnung in Nürnberg; der Fernseher läuft zumeist ohne Ton. Er hat sich eingerichtet, absolviert eine Ausbildung zum Hörgeräteakustiker und empfindet das Gefühl der Langeweile als Luxus. Johannes Ausbildungsberuf ist im Übrigen ein Beispiel dafür, wie sorgfältig und wohlüberlegt Nadine Schneider ihre Motivketten durch den Roman auslegt: Die Schwerhörigkeit ist ein Leiden, das gleich mehrere Mitglieder ihrer Familie getroffen hat. Johannes wiederum erinnert sich an jenen Tag, an dem der Vater ihm das Schwimmen beibringen wollte und ihn unversehens von einem Boot aus in den Dorfweiher stieß, wobei Johannes schmerzhaft mit dem Ohr auf die Wasserfläche prallte. Noch bis in die Gegenwart hinein lebt er in dem Glauben, ebenfalls schwerhörig zu werden. Die Last und das Erbe der Familie lassen sich nicht einfach ablegen, auch nicht mit räumlicher Distanz. Das Schwimmen und das Überwasserbleiben zieht sich als Metapher für den Selbsterhaltungskampf in der Diktatur durch den Roman.

Im März 1993 erreicht Johannes die Nachricht seiner Mutter, dass der Vater gestorben sei. Zum ersten Mal nach seiner Flucht reist Johannes ins Banat. Die Passagen, die von dieser Rückkehr erzählen, sind die eindrucksvollsten des Romans, weil es Nadine Schneider gelingt, das unabweisbare Unbehagen dieser Heimkehr, das Lauernde, das unausgesprochen Feindselige atmosphärisch einzufangen. Und weil sich zudem aus Johannes' Erinnerungspartikeln eine unselige Familiengeschichte bruchstückhaft zusammensetzt: Da ist der brutale Vater, ein Säufer, der mit seinen Gewaltausbrüchen Frau und Kinder drangsaliert hat und um den jetzt scheinheilig getrauert wird. Da ist eine Reihe von Selbsttötungen, allen voran Johannes' Bruder, der sich im Gemüsegarten der Mutter erschossen hat. Und da ist die Mutter des Vaters, die sogenannte Stadtgroßmutter, eine wunderbar ambivalent gezeichnete Figur, die ihrem Sohn nie verziehen hat, dass er das ärmliche Leben auf dem Land geführt hat, und die ihr Parteibuch wie eine Reliquie in der Schublade ihrer Wohnung in Temeswar aufbewahrte.

All diese oft gegensätzlichen Strömungen und Suchbewegungen choreografiert Nadine Schneider auf engem Raum. Auch sechs Jahre nach seiner einsamen Flucht und vier Jahre nach dem Ende des Ceaușescu-Regimes ist die Lücke in Johannes' Existenz noch immer nicht geschlossen: Die alte Heimat ist ein abgestorbenes Terrain, für das es in der neuen Heimat kaum Worte gibt. Dafür aber, glücklicherweise, diesen Roman.

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