Süddeutsche Zeitung

Nachruf:Zum Tod von Al Alvarez

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Er schrieb über Suizid, Poker und Bergsteiger, er druckte Sylvia Plath und Robert Lowell, förderte den Selbstentblößungspathos der "confessional poets": Der Schriftsteller, Essayist und Literaturkritiker Al Alvarez ist gestorben.

Von WILLI WINKLER

Als er, etwas unberaten, ein Buch über seine Scheidung veröffentlichte, kam die London Review of Books auf die abwegige und gleichzeitig nahe liegende Idee, es von seiner geschiedenen Frau rezensieren zu lassen. Nicht ganz überraschend bezeichnete sie das Buch als Fiktion, als Werk der Literatur. "Ein Jammer", fuhr sie fort, "dass er weder über den Takt noch das Talent verfügt, es auch so zu bezeichnen."

Al Alvarez war aber der Literatur so gründlich verfallen, dass er glaubte, sie auch noch heiraten zu müssen wie hier in Gestalt der Enkelin seines Lieblingsautors D. H. Lawrence, der einst das oberlippensteife England mit "Lady Chatterley" erschütterte. Mehr als zehn Jahre lang wirkte er als Literaturkritiker beim Observer und entschied darüber, welche Gedichte dort gedruckt wurden.

Mit Schlegel'scher Verve predigte er 1962, "kurz bevor London swinging wurde", in der Anthologie "The New Poetry" (1962) eine neue Literatur - weg vom Pathos der Altmeister wie John Betjeman und Philip Larkin, dafür hin zu den Jungen, zu Thom Gunn und Ted Hughes, zum Selbstentblößungspathos der "confessional poets". Wie die Beatles und die Rolling Stones in der Musik amerikanisierte Alvarez die britische Literatur, druckte Robert Lowell, John Berryman und die in ihrer Heimat gänzlich unbekannte Sylvia Plath.

Sie war der Anlass und auch der Grund für den Erfolg von "The Savage God" (Der grausame Gott, 1971), das Buch, in dem er den Selbstmord untersuchte und nach Art der von ihm favorisierten Bekenntnislyriker seinen eigenen Versuch nicht verschwieg. "Ich war ihrer Verzweiflung nicht gewachsen, sie machte mir Angst", schrieb er in seinen Erinnerungen, die den schönen Titel "Where Did It All Go Right?" (Wo genau ist alles gut gegangen?) trugen. Nichts lag ihm ferner, als diesen heute mythisierten Selbstmord mitzufeiern. Eine Musterschülerin sei Sylvia Plath gewesen, erzählte er der viel zu ehrfürchtigen Nachwelt, wollte die beste Ehefrau, die beste Mutter und die beste Dichterin sein. Und hatte sie nicht geschrieben: "Dying/ Is an art, like everything else", sterben sei eine Kunstform wie jede andere? "I do it exceptionally well." Sie beherrschte auch das, er zum Glück nicht.

Alvarez veröffentlichte gelegentlich selber Gedichte, aber für einen Dichter war er zu gescheit, vielleicht auch zu weltlich. Er beobachtete die Pokerspieler in Las Vegas, begleitete den Bergsteiger Mo Anthoine oder schrieb eine Reportage über das Leben auf einer Bohrinsel in der Nordsee.

Trost über den Qualen des Schreibens fand er, wenn er seinen Nachbarn Alfred Brendel beim Üben der Beethoven-Sonaten beobachtete: "Nach einer Probe, bei der er schweißüberströmt und ausgelaugter war als sonst, fragte ich ihn, wie er sich alles merken könne. Seine Antwort: 'Das Merken ist nicht das Problem, es kommt auf die Muskulatur an'."

Al Alvarez hat den grausamen Gott überlebt. Musterschüler musste er dafür nicht sein, das hat ihn gerettet, das und die Literatur, die ihm dieses Leben einst eingebrockt hatte. Am Montag ist er im Alter von neunzig Jahren in London gestorben.

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Quelle:
SZ vom 25.09.2019
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