Süddeutsche Zeitung

Nachruf:Witali Schentalinski ist gestorben

Von Thomas Urban

Keineswegs wurde Maxim Gorki, wie oft vermutet, vom sowjetischen Geheimdienst NKWD ermordet, weil er Stalin lästig geworden war; vielmehr mussten ihn seine Ärzte elendiglich verrecken lassen, nachdem er sich eine Lungenentzündung zugezogen hatte. Sie durften ihn auf Geheiß des Kremls nicht behandeln. Der Schriftsteller Isaak Babel hatte erst heimlich mit der Spitzel- und Terrortruppe Stalins zusammengearbeitet, wurde dann aber selbst verhaftet, gefoltert, schließlich erschossen. Auf Schritt und Schritt verfolgte der NKWD den Dichter Ossip Mandelstam, Stalin ergötzte sich an den Berichten, wie er gequält wurde. All diese Informationen hat Witali Schentalinski aus Tausenden von Protokollen aus den KGB-Archiven herausgefiltert, es war eine mühsame Arbeit, bei der er von den Geheimen nach Kräften behindert wurde.

Während der Perestroika unter Michail Gorbatschow war seine große Stunde gekommen: Er wurde in eine Kommission des sowjetischen Schriftstellerverbandes gewählt, die die Schicksale von in der Stalinzeit verschwundenen Mitgliedern aufklären sollte. Der KGB sträubte sich mit aller Kraft dagegen und konnte verhindern, dass die Archive generell geöffnet wurden; auch Gorbatschow wollte dies nicht. Doch man einigte sich auf einen Kompromiss: Ein Mitglied der Kommission sollte die Akten sichten. Der KGB akzeptierte dafür den stets zurückhaltend auftretenden Witali Schentalinski, in der offensichtlichen Annahme, dass dieser nur ein geringes Echo finden werde. Er hatte vorher nicht zur Literaturprominenz gehört, er hatte vor allem Reiseberichte über Sibirien und die Arktis verfasst, seine Gedichtbände hatten wenig Beachtung gefunden.

Hartnäckig grub sich Schentalinski durch die Archive, ließ sich durch Schikanen nicht abschrecken. Alexander Solschenizyn und Jewgeni Jewtuschenko rühmten seine lebendig geschriebenen Dokumentationen über Schriftsteller, die in das Räderwerk des NKWD geraten waren, darunter Michail Bulgakow, Boris Pasternak, Boris Pilnjak, Andrej Platonow, die Dichterinnen Anna Achmatowa, Marina Zwetajewa und Nina Hagen sowie der Philosoph Pawel Florenski. Auf Deutsch erschien Schentalinskis Spurensuche unter dem Titel "Das auferstandene Wort"; in Frankreich wurde sie zum Bestseller. In den letzten Jahren arbeitete Schentalinski eng mit der Menschenrechtsorganisation "Memorial" zusammen, regelmäßig hielt er Vorträge im Moskauer Gulag-Museum. Unermüdlich warnte er vor den Versuchen der Putin'schen Kulturpolitik, die Verbrechen der Stalinzeit zu bagatellisieren. Wie erst jetzt bekannt wurde, ist Witali Schentalinski, 78 Jahre alt, am 27. Juli an den Folgen eines Sturzes in einem Krankenhaus in Serpuchow (Bezirk Moskau) gestorben.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4091340
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 14.08.2018
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.