Süddeutsche Zeitung

Nachruf:Wenn er irrte, dann irrte er groß

Er schrieb fast nichts und konnte es doch besser als fast alle anderen: Der Herausgeber und Essayist Kurt Scheel ist tot.

Von WILLI WINKLER

Seine Abschlussarbeit schrieb er, das machte man damals so nach dem Eintritt in die Brandt-SPD, über Comics. Aber seine war die erste. Danach wäre Arno Schmidt fällig gewesen, denn wie es sich für jeden denkenden Menschen gehörte, war Kurt Scheel eine Zeitlang dem heidschnuckenumrungenen Bargfelder hörig, grübelte zusammen mit seinem Freund Jörg Drews über die Valeurs des ":"- :king!"" gleich am Anfang von "Zettel's Traum" und hätte sich beinah in die verbeamtete Literaturwissenschaft verrannt. Stattdessen kam er zum Merkur .

Die "Zeitschrift für europäisches Denken" wurde ihm, wie wir Hebammen sagen, keineswegs in die Wiege gesungen. Er wuchs in Altenwerder auf, weit draußen im südschwedischen Schlick vor Hamburg. Den Ort gibt's nicht mehr, er wurde dem Tor zur Welt geopfert, der Hafenerweiterung. Sein Vater betrieb die "Altenwerder Lichtspiele", und der Sohn, früh vollendet als Kartenabreißer und Bonbonpapierwegräumer, sah den ganzen Müll, den das Heimat- und Artur-Brauner-Kino in die Welt hinaus stieß. Wer als kurzbeiniger Sandwich-Mann für den neuesten Edgar Wallatsche (philologisch korrekte Lautschrift) geworben hatte, den konnte kein Autorenkino, kein Godard, kein junger oder alter deutscher Film mehr schrecken.

Sein Herz hing an Hollywood, also an John Wayne, also an den "Searchers", John Fords Odyssee und Wolfram von Eschenbachs Parzival. Nach jahrelanger Suche findet Wayne Debbie als Indianersquaw wieder. Rassist, der er ist, will er sie dafür umbringen, aber in letzter Sekunde nimmt er sie doch in den Arm und sagt: "Wir gehen nach Hause, Debbie." Wem da nicht das Herz blutet, der hat keinen Verstand. Unweigerlich machte Scheel aus seinem blutenden Herzen eine Mördergrube, als er "Paris, Texas", das hochgelobte Werk von Wim Wenders, in tausend Stücke fetzte, weil er den Film als angemaßtes Remake der "Searchers" durchschaute.

Kurt Scheel war ein Autor, der fast nichts schrieb und es doch besser konnte als fast alle anderen. Das ist die Berufskrankheit aller Lektoren und Redakteure, die jeden Tag den Schrott, den andere bedenken- und gedankenlos abliefern, so lange streicheln und striegeln müssen, bis ein annehmbarer, ein lesbarer Text daraus wird. Scheel war ein Meister in dieser undankbaren Kunst und bezeichnete sich ungewohnt bescheiden, aber völlig zu Recht als "weltbesten Redigierer". 31 Jahre, ziemlich genau doppelt so lang wie der dreifache Mörder Peter-Jürgen Boock im Gefängnis saß, wirkte Scheel erst in München, dann in Berlin als hauptverantwortlicher Redakteur.

Streng, so streng war sein bleistiftenes Regime, aber der Merkur wurde bei ihm lesbar, eine Zeitschrift von dieser und nicht einer anderen Welt, und manche Autoren staunten, wie gut sie mit einem Mal waren. Scheel konnte über sie toben und fluchen, sein Zorn war oft biblisch, nein, waynisch, aber er war der großzügigste Redakteur. Er las alles, las auch das überkandidelte 20-Seiten-Manuskript, das ein Anfänger auf der Universitätsschreibmaschine getippt hatte, warf es nicht in den Papierkorb, sondern schrieb sofort zurück, dass es im Merkur leider keine Verwendung dafür gebe, lud den Noch-gar-nicht-Autor aber ein, um Weiteres zu besprechen.

Hartnäckig widersetzte er sich seinem weit prominenteren Chef und Mitherausgeber Karl Heinz Bohrer, dem der Merkur gar nicht schlegelsch und benjaminesk genug sein konnte, ließ Joseph von Westphalen schreiben oder Eckhard Henscheid, der regelmäßig das Pathos zerdepperte, an dessen Wiedergewinnung dem Autor der bei Ernst Jünger entdeckten "Ästhetik des Schreckens" so lag. Katharina Rutschky räsonierte darüber, wie lästig Brüste sein können, Klaus Laermann verachtete "Derridada" und "Lacancan", Kathrin Passig debütierte lang vor Klagenfurt im Merkur, Gerhard Henschel wurde ernst genommen, und Michael Rutschky setzte sich unermüdlich mit der kritischen Theorie in Ahnung und Gegenwart auseinander.

Aus einer klassischen Redigatur, aus Bohrers "guten Menschen", entstand der "Gutmensch". Zu spät bedauerte Scheel, dass der Begriff "von zu vielen Idioten" gebraucht wird. Wenn er irrte, dann irrte er groß. Als die SPD, nicht mehr die von Brandt, sondern von Schröder, sekundiert von den Grünen, ihr Heil im Jugoslawienkrieg sah, stieg auch Scheel in die Rüstung und folgte anschließend Bush in den Irak.

In einem letzten Text ist Kurt Scheel ans Wasser und hat vom Baden erzählt. Am Dienstag ist der treueste aller Redakteure mit 70 Jahren nach Hause gegangen. Debbie weint und nicht nur sie.

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SZ vom 03.08.2018
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