Süddeutsche Zeitung

Nachruf:"Verkopft sind wir alle"

Im Alter von 96 Jahren ist Georg Ratzinger in Regensburg gestorben. Der Domkapellmeister der weltberühmten Domspatzen drückte sich direkter, offenherziger aus als sein Bruder, Benedikt XVI. Aber er teilte dessen Ansichten.

Von Rudolf Neumaier

Die Vorstellung vom ewigen Leben? Ach, er male sich nicht aus, wie es da sein wird, im Paradies. Das Diktiergerät lief. Aber das eine sagte er: Er wisse, dass das ewige Leben das Ende aller Sorgen bedeute und Seligkeit. Seligkeit? Nun, dies sei ein Zustand, in dem alle Wünsche erfüllt sind. "Wie das ausschaut, können wir aber nicht sagen, weil wir keine Informationen darüber haben." Ob er einmal mit seinem Bruder vereint sein werde in dieser Seligkeit, mit den Eltern? "Das wünsche ich mir", sagte er, "aber ich male es mir nicht aus." Es führt nur zu Enttäuschungen, wenn man sich zu viel erwartet. Georg Ratzinger wusste das, denn einmal hatte er sich etwas ausgemalt: dass er die letzten Jahre seines Lebens mit seinem Bruder Joseph verbringen würde, in ihrem Häuschen in Pentling. Doch Joseph wurde Benedikt XVI. - und er, Georg, blieb allein.

Am 1. Juli ist Georg Ratzinger im Alter von 96 Jahren in Regensburg gestorben. Er sei friedlich eingeschlafen, berichten Leute, die ihn jahrelang begleiteten. Sein drei Jahre jüngerer Bruder Joseph, der emeritierte Benedikt XVI., besuchte ihn in den letzten Tagen.

Es war der Abend des 19. April 2005, an dem Georg Ratzinger den Zeitplan seines Lebensabends im weißen Rauch aufgehen sah, der über der Sixtinischen Kapelle aufstieg. In Rom läuteten die Glocken, in der Regensburger Luzengasse kauerte ein 81 Jahre alter Greis in einem Wohnzimmersessel. Und als ein beglückter Kardinal "Habemus papam" in die Welt hinausrief, sandte der verzweifelte Greis, der ahnte, welcher Name proklamiert würde, vor dem Fernseher ein Stoßgebet zum Himmel. Der Herr möge diesen Kelch an ihm vorübergehen lassen. Und auch an seinem Bruder. Als der neue Papst ihn wenige Minuten später anrufen wollte, ging er nicht ans Telefon. "Ich habe es läuten lassen und mir gedacht, steig mir doch den Buckel rauf", erzählte er später. Zu geplättet war er. "Derdetscht", sagte seine Haushälterin.

Als Papstbruder musste er Zeitungen Interviews geben, die vorher keine Notiz von ihm genommen hatten

Am Tag nach der Papstwahl saß Georg Ratzinger in seiner Stube, stapelweise Zeitungen vor sich. Auf einer stand "Wir sind Papst". Sein Gesichtsausdruck sagte nichts anderes als "Sehr witzig, ihr habt aber nicht euer ganzes Leben dem Herrgott geopfert und müsst nun auch noch den Lebensabend drangeben", während er wie am Fließband erzählte, wie sie aufgewachsen waren und wie oft sie telefonierten. Der Rest ist bekannt. Einmal waren sie noch gemeinsam in Pentling, diesem Vorort von Regensburg, wo das Haus steht, unweit dem Elterngrab auf dem Regensburger Ziegetsberg. Genau genommen waren es nur ein paar Minuten. Und Georg Ratzinger musste seinen Bruder mit den Kameras teilen, denn Joseph, genannt Benedikt XVI., war damals gefeiert wie ein Popstar.

Wer Georg Ratzinger kannte, wird es als eine besonders hinterhältige Volte des von ihm so verabscheuten Zeitgeists empfinden, dass er in den letzten Jahren nur noch als Papstbruder wahrgenommen wurde. Plötzlich musste er Interviews für Zeitungen geben, die zuvor nie von ihm Notiz genommen hatten. Wo in der Politik sogenannte First Ladys herhalten müssen, um die weiche Seite eines Staatsmannes zu erschließen, konzentrierte sich das öffentliche Interesse an der Privatheit des Papstes auf ihn, den Papstbruder.

In diese Aufgabe fügte er sich, er sah es als Gottes Auftrag an. Wo irgendetwas, was mit dem Papst zu tun hatte, enthüllt, eröffnet, eingeweiht oder aufgestellt wurde, ließ er sich hinchauffieren. Wenn es gewünscht war, steuerte er eine Anekdote bei. Im grellen Scheinwerferlicht musste Georg Ratzinger blinzeln - seine Augen hatten nachgelassen. Durch das Blinzeln wirkte er etwas verletzlich. Aber das war er nicht. Gottvertrauen und 55 Jahre Priesterdienst hatten ihn souverän gemacht. Trat er vor dem frommen Volk auf, parlierte er in seiner oberbayerischen Mundart über den "Babbst", zu anderen Anlässen changierte er ins Gehobene, das "a" im Papst erhielt die gebührende sakrale Länge. Einige Leute, vor allem Kleriker, glaubten einen Strahl von der Heiligkeit abzubekommen und selbst zu glänzen, wenn sie dem Bruder des Heiligen Vaters schmeichelten. Der Regensburger Bischof kam zum Beispiel erst auf die Idee, Georg Ratzinger zum Ehrendomherrn zu ernennen, als dessen Bruder längst Papst war. Da war die Initiative von lokalen CSU-Politikern, ihn zum Ehrenbürger zu ernennen, längst als Wahlkampfchose und Missbrauch der Person entlarvt. Ratzinger hatte darauf mit seiner entwaffnend pragmatischen Art reagiert: "Was soll ich mit der Ehrenbürgerwürde? Ich kann ja die Vorteile nicht mehr nutzen, freien Eintritt ins Schwimmbad, freie Fahrten im öffentlichen Nahverkehr."

Seine Sicht der Dinge war konform mit der seines Bruders. Nur dass sich der Musiker Georg Ratzinger anders ausdrückte als der intellektuelle Theologe Joseph Ratzinger in der Kurie. Direkter, offenherziger, ungefilterter. Durch ihn konnte man tief und ohne Zerrspiegel in die Ratzinger-Gesinnung blicken. Einmal ließ er sogar seine Skepsis gegenüber der Aufklärung durchblicken. "Früher war es einfacher", sagte er, "weil noch nicht so viele Studierte da waren. Die Studierten machen die Geschichte schwierig. Man hat sich erwartet: Wenn die Leute gebildet sind, wächst die Einsicht, aber auch der Individualismus wächst, die Eigenbezogenheit, das Argumentieren mit subjektiven Argumenten." Ratzinger klang in diesem Interview, als wollte er das Rad der Zeit zurückdrehen - und zwar sehr weit. "Die Dominanz der Ratio erschwert das gemeinsame Leben. Verkopft sind wir alle." Man konnte ihn nicht vom Gegenteil überzeugen, aber mit einem nonchalanten "Aber, Herr Domkapellmeister" ließ sich der Kulturpessimist Ratzinger zumindest beschwichtigen.

Der Herr Domkapellmeister. So nannten ihn alle bis zum Schluss. Es war die wahre Rolle seines Lebens. "Der liebe Gott hätte mir nichts Besseres geben können", sagte er. Anfangs hatte es Georg Ratzinger nicht leicht, sich gegen die Altvorderen zu behaupten. Zu allem Überfluss beging ein Chorleiter Suizid, der sich Hoffnungen auf diese Stelle gemacht haben soll. "In dieser Zeit war ich froh um meine Geschwister", sagte er später. Georg und Joseph hatten noch eine ältere Schwester, Maria. Wegen seiner hohen Musikalität konnte sich der neue Domkapellmeister behaupten. Seine jungen Sänger nannten ihn "Cheeef", im kindlichen Überschwang duzten sie ihn und neckten ihn wie einen allzu gutmütigen Onkel.

Er bat öffentlich um Vergebung für die Ohrfeigen bei Chorproben

Allerdings nur in der Freizeit. In den Chorproben sah das anders aus. Der Chorsaal mit der Raumnummer 800 war berüchtigt als Zuchthalle: Wenn er die Fassung verlor, büßte er seinen Anstand ein - aus dem netten älteren Herrn wurde ein wütender, schreiender, klavierdeckeldreschender Diktator. Leider verlor er die Fassung nicht selten. Bis in die späten Siebzigerjahre, solange es gesetzlich erlaubt war, verteilte er auch Ohrfeigen. Dass Buben im Domspatzen-Internat zu Beginn der Siebziger sexuell missbraucht wurden, will er nicht mitbekommen haben. Das beteuerte er bis zum Schluss, aber kaum einer glaubte ihm das. Und deswegen wird es unter den Kommentatoren seiner Lebensleistung immer zwei Gruppen geben: die Kritiker, die ihm Gewalt und Ignoranz vorwerfen, und die Verteidiger, die seine Begabung schätzen und ihn als Kind seiner Zeit betrachten - einer Zeit, in der Ohrfeigen als völlig normal galten.

Wenn er zurückblickte, waren ihm seine eigenen Entgleisungen äußerst peinlich. In Interviews erwähnte er die Chorproben oft - und er bat öffentlich um Vergebung. Viele seiner Sänger akzeptierten die Entschuldigung. Zu viel hatte man gemeinsam erreicht. Im Bestreben, Großes zu erreichen, und im Bewusstsein, Kunst zu schöpfen, sind Chorsänger leidensfähig wie Hunde. Sie lassen sich stundenlang quälen.

Entschädigt wurden seine Domspatzen nicht nur durch den Beifall, wo immer sie auftraten. Entschädigt wurden sie vielmehr durch den beseelten Gesichtsausdruck Georg Ratzingers, der lange anhielt, wenn die letzte Zugabe des Konzerts im Pianissimo verklungen war und dem Auditorium der Atem stockte. Nach einigen Sekunden, die sich wie Minuten anfühlten, mündete dieses Lächeln in einem angedeuteten Nicken. Das war Lob. Und Dankbarkeit. Großartige Momente, immer wieder.

Georg Ratzinger und die Domspatzen erreichten das leiseste, gottergebenste Piano, das ein Knabenchor zu singen fähig ist. Manche Komponisten interpretierte er wie kein Zweiter: Mendelssohn-Bartholdy, Bruckner, Rheinberger, auch Palestrina, den großen Renaissance-Meister. Er selbst offenbarte sehr spät kaum erahnte Fähigkeiten als Tonschöpfer einer Messe, die in ihrer zeitgemäßen Harmonik begeistert.

Er wird am Unteren Katholischen Friedhof beerdigt. Es ist die Grabstätte der Regensburger Domkapellmeister. Seinen Sarg werden ehemalige Domspatzen zu Grabe tragen. Wenn die Corona-Regeln es zulassen, werden die Regensburger Domspatzen Psalm 91 singen, im achtstimmigen Satz von Felix Mendelssohn-Bartholdy: "Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen." Georg Ratzinger wirkte selig, wenn er diesen Psalm dirigierte.

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SZ vom 02.07.2020
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