Süddeutsche Zeitung

Nachruf:Schwarzer Engel der Liberté

Mit dem Tod der Chansonsängerin Juliette Gréco ist die letzte Stimme des Pariser Existenzialismus verstummt. Sie beherrschte die große Kunst, sich immer wieder neu zu erfinden und ihrem Stil doch treu zu bleiben. Ihr war klar, dass die mit der Zeit ein Emblem der Vergangenheit wurde.

Von Joseph Hanimann

Noch einmal konnte Frankreich nach der Nachricht vom Tod Juliette Grécos sich im Sound jener Jahre wiegen, wo sein Mischangebot aus Hoch- und Populärkultur noch internationale Triumphe feierte. Diese Frau hatte mit Sartre, Simone de Beauvoir, Camus, Prévert, Boris Vian diskutiert, gestritten, gescherzt und sang auch fürs allgemeine Publikum. Sie war die letzte noch lebende Stimme des Pariser Rive Gauche, auf dem in den ersten Nachkriegsjahren der Existenzialismus für alle im Straßencafé erfunden wurde. Dieser letzte Faden zu jener Epoche ist nun gerissen, die Vergangenheit gehört endgültig der Geschichte an. Das wird mit den großformatigen Schwarz-Weiß-Fotos in den Zeitungen und mit Liedeinblendungen in Rundfunk und Fernsehen gerade gefeiert. Denn Juliette Gréco war nicht nur eine Stimme, die ihr angerautes Jungmädchentimbre mit den Jahren immer weiter abdunkelte. Die 1927 in Montpellier Geborene war eine Leuchtfigur der Nacht, ein schwarzer Engel des Nachkriegsglücks, eine verkörperte Liberté.

Trotz ihres Talents wäre sie eine unter vielen ihres Fachs geblieben, hätte sie nicht zum richtigen Zeitpunkt im richtigen historischen Kontext gestanden und mit ihm Funken geschlagen. Dafür war die 20-Jährige mit der zerrütteten Kindheit alles andere als prädestiniert. Ihre Mutter war Widerstandskämpferin mit Leib und Seele und hatte für die beiden Töchter kaum Zeit. Während der Besatzung lebte sie weitgehend im Untergrund und kam mit der älteren Tochter Charlotte ins KZ Ravensbrück, während die 16-jährige Juliette der Deportation entging. Sie wollte Tänzerin oder Schauspielerin werden und trat noch vor Kriegsende als Statistin in der Uraufführung von Paul Claudels modernem Barockdrama "Der seidene Schuh" auf.

Die Schriftsteller wetteiferten darum, für Juliette Gréco Liedtexte zu schreiben

Der für sie entscheidende Kontext war dann aber das Pariser Chansonlokal "Le Tabou", in dem sie 1946 mit Gesangseinlagen begann. Dort kam eines Abends das damals noch wenig bekannte Philosophenpaar Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir vorbei und war beeindruckt von ihrem Auftritt. Sartre lud die junge Sängerin am Tag danach in seine Wohnung ein und bot ihr ein paar Gedichte als Liedvorlage an. Auch eines von ihm war dabei. Von diesem wollte die Kecke nichts wissen, nahm aber "Si tu t'imagines" von Raymond Queneau und "L'éternel féminin" von Jules Laforgue mit. Vertont wurden die Texte dann von Joseph Kosma. Es waren ihre ersten großen Erfolge. Der Weg war damit eingeschlagen. Das "Tabou" mit der selbst singenden Muse wurde zum Ankerpunkt eines von Saint-Germain-des-Prés ausstrahlenden neuen Lebensgefühls. "Zazou" nannten es manche.

"La fourmi" von Robert Desnos, "Les feuilles mortes" von Jacques Prévert und viele andere kamen später dazu. Die Schriftsteller wetteiferten darum, für Juliette Gréco Liedtexte zu schreiben. Und sie übernahm auch Lieder von Kollegen: Léo Ferré, Georges Brassens, Charles Aznavour. Mit den Tourneen nach Amerika kamen in den frühen Fünfzigerjahren die internationale Berühmtheit und die Bekanntschaft mit Miles Davis oder Orson Welles. Juliette Gréco war die Parisienne für die halbe Welt und fortan fürs Leben. Im Unterschied zur anderen Pariser Größe, Edith Piaf, war sie aber die intellektuell angehauchte und stets politisch eingefärbte. In Paris selbst folgte der erste Auftritt im Olympia und nach dem Film "Orphée" von Jean Cocteau kamen auch aus Amerika bald Angebote, "The Roots of Heaven" von John Huston oder "Crack in the Mirror" von Richard Fleischer.

Die Rückkehr auf die Chansonbühne mit Jacques Brel, Guy Béart, Serge Gainsbourg, die Auftritte in populären Fernsehserien, etwas Stargeplänkel in einschlägigen Magazinen und gleichzeitig weiterhin politisches Engagement mit gelegentlichen Gratisauftritten für die Genossen, dabei auch wiederholte Wechsel der Produzenten: Das alles hätte leicht in die fade Routine führen können. Gréco wusste sich aber immer wieder neu zu erfinden und ihrem Stil doch treu zu bleiben. In der Ehe mit Michel Piccoli bildete sie von 1966 an ein paar Jahre lang ein glamouröses Paar. Gleichzeitig vertrat sie von Anfang an ein feministisches Selbstbewusstsein, das mehr als mit Spruchbändern mit Augenzwinkern auftrat. 1968 nahm sie das swingende Lied "Déshabillez-moi" in ihr Repertoire auf: Ziehen Sie mich aus, aber doch nicht so schnell ... Mit dem wie ein Peitschenknall zischenden Schluss: Und jetzt an Ihnen, raus aus der Hose!

Geschickt verband sie Stilkonstanz und Zeitgefühl

Im Alter von 55 Jahren publizierte Gréco unter dem Titel "Jujube" - ihr Kleinmädchenübername - einen ersten Lebensrückblick. Der Rhythmus ihrer Auftritte und neuen Alben verlangsamte sich zwar allmählich, mit manchmal längeren Pausen. Die großen Bühnen, Chansontempel wie Opernhäuser, standen der stets in Schwarz Gekleideten mit der unverwechselbaren Silhouette und den in die Länge getuschten Mandelaugen aber nach wie vor offen. Aus der Sängerin wurde allmählich ihr eigener Mythos, den sie mit den die Worte umspinnenden Handbewegungen ebenso gut spielte wie damals das Jungtalent. Nach einigen eher bescheidenen Versuchen mit eigenen Texten hielt sie sich für die Liedvorlagen hauptsächlich an die einander abwechselnden Schriftstellergenerationen. Auf die großen Namen der Nachkriegszeit folgten Jean-Claude Carrière, dann Marie Nimier, Jean Rouaud, Gérard Manset.

Diese Aufgeschlossenheit gegenüber dem Zeitenwechsel gehörte zu ihren großen Qualitäten. Stilkonstanz und Zeitgefühl verstand sie geschickt zu verbinden. Mit unüberhörbarer Wehmut klang aber zusehends das Bewusstsein in ihren Auftritten mit, dass sie selbst ebenso ein Emblem der Vergangenheit geworden ist wie das Pariser Quartier, mit dem ihre Kunst unzertrennlich verknüpft bleibt.

Sie klagte öffentlich darüber, dass in Saint-Germain-des-Prés die Modegeschäfte, die Buchhandlungen, die internationale Luxusklasse das angestammte Intellektuellenmilieu abgelöst hätten. Ihre letzte Tournee musste sie 2016 wegen wiederholter Streifschläge und Herzschwächen schließlich abbrechen.

An ihrem südfranzösischen Rückzugsort Ramatuelle ist sie nun mit dreiundneunzig Jahren gestorben.

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Quelle:
SZ vom 25.09.2020
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