Wer beim Spazierengehen nicht vor jedem Schaufenster einer Buchhandlung stehen bleibe, so hat es Karl Otto Conrady einmal als hilfreiche Berufsberatung verkündet, der brauche auch nicht Germanistik zu studieren. Er selber hatte ganz klassisch über Heinrich von Kleist promoviert und sich 1957 noch fünfzigerjahrehafter mit einer Arbeit über "Lateinische Dichtungstradition und deutsche Lyrik des 17. Jahrhunderts" habilitiert, aber er fand bald aus dem Gefängnis der zeitblinden Werkimmanenz heraus.
Ähnlich wie beim fast gleichaltrigen Günter Grass kreisten Conradys literaturhistorische Aufsätze, die er als "Zwischenrufe" und "Klärungsversuche" verstand, um seine jugendliche Begeisterung für den Nationalsozialismus, dem er als Jungstammführer diente, aber nicht, wie er zugab, aus missbrauchtem Idealismus, sondern es ging um die "Verführung zur Machtausübung als Büttel des Regimes", um das "Ausleben persönlichen Ehrgeizes". Davon durfte natürlich gleich nach dem Krieg keine Rede mehr sein, die Karriere ging vor, und die Literatur half. "Man siedelte sich in der vermeintlich unabhängigen Zone des Ästhetischen, des sprachlichen Kunstwerks an oder besorgte Literaturgeschichte allein als Geschichte der Literatur und des Geistes."
1964, Conrady war inzwischen auf einen Lehrstuhl in Kiel berufen worden, protestierte er unter der Überschrift "Sind wir wieder so weit?" in der Zeit , als dem völkischen Dichter Friedrich Griese in Anwesenheit mehrerer schleswig-holsteinischer Landesminister ein Literaturpreis verliehen wurde. Es war aber keine Frage des "wieder", sondern des "immer noch"; im Jahr zuvor hatte der Schulsprecher Uwe Barschel den verurteilten Kriegsverbrecher Karl Dönitz als Zeitzeugen ins Gymnasium Geesthacht eingeladen. Angestachelt von den universitätsunabhängigen Curtius-Schülern Rudolf Walter Leonhardt und Walter Boehlich begann in der Zeit eine Debatte über die völkischen Wurzeln der "Deutschwissenschaft".
Mit seiner Stellungnahme wagte Conrady einen vorsichtigen Vatermord, er wandte sich nämlich indirekt gegen seinen Lehrer Benno von Wiese, der, in der aufbrechenden Debatte zu einer Äußerung über seinen eigenen Opportunismus im Dritten Reich genötigt, vom "Einfluss eines verhängnisvollen Zeitgeistes" faselte, dem auch er "erlegen" sei.
Auf dem Münchner Germanistentag 1966 stand Conrady an der Seite der Jungen, die von den verzweifelt um ihre Privilegien kämpfenden Altgermanisten als "Frondeure" beschimpft wurden. Zwei Jahre saß Conrady für die SPD im Kieler Landtag, wirkte in deren kulturpolitischem Ausschuss, leitete später auch den Deutschen Germanistenverband und waltete zwei Jahre als deutscher PEN-Präsident, alles Ämter mit viel Renommee und wenig Einfluss. Inzwischen war er an seine letzte akademische Wirkungsstätte, nach Köln, berufen worden, der er 1990 eine eigene "unfestliche Erinnerung" an die wenig selige Vergangenheit widmete.
Zum Glück ergab sich Conrady der Politik nicht mit Haut und Haar. Bei Rowohlt brachte er Ausgaben der Werke von Johann Heinrich Jung-Stilling und Georg Forster und eine Einführung ins Literaturstudium heraus, aber populär wurde er als Herausgeber von Gedichten. Der immer wieder ergänzte "Große Conrady" brachte es zu einem Hausbuch, der "Schul-Conrady" sollte dem leseschwachem Nachwuchs wenigstens einen Taschenvorrat an deutscher Poesie mitgeben. Seine zweibändige Goethe-Biografie (1982/1984) hält die Mitte zwischen K.R.Eisslers psychoanalytischer Esoterik und Rüdiger Safranskis epigonaler Huldigung. Karl Otto Conrady ist, wie erst jetzt bekannt wurde, am 1. Juli im Alter von 94 Jahren in Köln gestorben.