Süddeutsche Zeitung

Nachruf:Gute Laune als Denkprinzip

Der französische Denker Michel Serres mochte sich keiner Philosophenschule anschließen und blieb seiner Herkunft aus Mathematik und Naturwissenschaft treu. Jetzt ist er im Alter von 88 Jahren in Paris gestorben.

Von Joseph Hanimann

Alles hat er etwas anders gemacht als sonst üblich in der französischen Tradition des Philosophierens - und doch landete er schließlich in der Académie française. Für den vorherrschenden französischen Philosophiestil fehlte ihm die Freude am Streit, die Kampfbereitschaft für einmal bezogene Positionen, das Glück der endgültigen Antwort. Er glaube nicht, dass Debatten das Denken voranbrächten, bemerkte Michel Serres 1992 im Buch "Aufklärungen", sie bestärkten nur die eingefahrenen Positionen. Das Zeitalter der Kritik und des Kommentars hielt er für beendet. Das Bedeutsame sah er fortan auch für die Philosophie eher auf Seiten des einsamen Forschens und quasi wissenschaftlichen Bereitstellens von neuen adäquaten Begriffen. Mit dieser Überzeugung ist der Quereinsteiger ein Querläufer in der Gegenwartsphilosophie geblieben.

Der Bildungsweg des 1930 im südwestfranzösischen Agen geborenen Fischersohns führte zunächst in die Marine und erst danach in die Pariser Eliteschule École nationale supérieure. Bevor Michel Serres Philosoph wurde, diente er als Marineoffizier und hat als solcher 1957 an der Expedition zur Wiedereröffnung des Suezkanals teilgenommen. Zum Studium der Mathematik und dann der Philosophie kam er vor allem durch den Eindruck, den auf ihn im Alter von fünfzehn Jahren der Bombenabwurf über Hiroshima gemacht hatte. Zum ersten Mal in der Geschichte habe da die Wissenschaft derart offensichtlich auf der falschen Seite gestanden, so kam es ihm vor. Das verlangte nach weiterer Erklärung. Er fand sie aber nicht in den Zirkeln des damals dominierenden marxistischen Denkens und fühlte sich auch nicht als Sprössling irgendeiner der herrschenden philosophischen Schulen. Als einzige für ihn wirklich entscheidende Figur nannte er mitunter die Philosophin Simone Weil.

Die Auseinandersetzung mit Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie prägte eine Werkphase, die 1969 mit dem ersten Band seines "Hermes"-Zyklus begann. Fünf Folgen sollten es bis zum Jahr 1980 insgesamt werden. Im Zeichen des römischen Götterboten entwarf Serres eine Theorie des allgemeinen Erkenntnisverkehrs über Geschichtsepochen und Wissensbereiche hinweg. Die Flüssigkeitsdynamik bei Lukrez etwa stand da unmittelbar im Austausch mit der modernen Physik - und keine der beiden wusste es besser. Ein Ziel blieb für Serres immer, dass jeder Wissensbereich durch Selbstreflexion seine Ethik aus sich selbst heraus entwickeln müsse, statt sie sich von der Philosophie vorgeben zu lassen. Serres vermittelte diese Überzeugung als Lehrer zunächst an der Universität Clermont-Ferrand, wo er Kollege von Michel Foucault war, dann an der Pariser Sorbonne und ab 1984 unter anderem als Full Professor in Stanford. Die Pariser Akademiker- und Intellektuellenbühne blieb ihm verschlossen, weil er mit seinem Denkansatz zu weit abseits lag von der damals dominierenden strukturalistischen, psychoanalytischen und post-metaphysischen Szene.

Einer Vermeer-Betrachtung, die nicht auch mit Logarithmen arbeitet, traute er wenig zu

Mit dem antiken Hermes hatte Serres trotz seines stets heiter entspannten Auftretens auch die Ruhelosigkeit gemeinsam. Alles weckte seine Neugierde, bis hin zum Halsschmuck der Sängerin Castafiore aus Hergés Serie "Tim und Struppi", in welcher er Züge einer zeitgenössischen Monadologie ausmachte. Sein Herumstreifen quer durch alle Disziplinen, das ihm manche als Dilettantismus auslegten, rechtfertigte Serres damit, dass er auch das Beiläufigste mit einbeziehen müsse, um sein Ziel eines Gesamtblicks über das menschliche Wissen erreichen zu können. Denn nur mit einer Physik, die neben dem mathematischen auch den poetischen Blick berücksichtigt, und mit einer Vermeer-Betrachtung, die neben kunstgeschichtlichen Kategorien auch mit Logarithmen arbeitet, hatte das Denken seiner Ansicht nach eine Chance, für die Alltagswirklichkeit relevant zu sein.

Dieses Anliegen der praktischen Wirkung des Denkens im Leben der Menschen eröffnete seine zweite Werkphase. Eines ihrer Zentralthemen war das des Parasiten, der asymmetrischen Wechselbeziehung zwischen den Subjekten. Mit dem Buch "Der Naturvertrag" mündete diese Phase 1990 in die kühne These, unsere Welt brauche eine neue Organisationsgrundlage. Wie im 18. Jahrhundert mit dem "Gesellschaftsvertrag" für die Beziehung der Menschen untereinander sei heute die Zeit gekommen, wollten wir unser künftiges Dasein als Schmarotzer auf dem Nährboden Erde nicht ernsthaft in Gefahr bringen, für einen neuartigen Vertrag, der die Natur als Inhaberin spezifischer Rechte anerkenne. In ökologischen Kreisen wurde diese Idee als philosophischer Denkhorizont begrüßt. Andere hielten den Gedanken einer Natur als "Rechtssubjekt" für absurd.

Vor den Errungenschaften der Biotechnologie hatte er keine Angst

Ein drittes Werkfeld war für den 1991 in die Académie française gewählten Philosophen das Plädoyer für die Bedeutung der Geisteswissenschaften in Lehre und Forschung zu einem Zeitpunkt, an dem diese sich im Rückzug befanden. Michel Serres' Herkunft aus der Mathematik und den Naturwissenschaften verlieh ihm dafür eine besondere Autorität. Unermüdlich pochte er auf die Rolle der differenzierten Sprache und der Mehrsprachigkeit, durchstreifte er Malerei, Literatur, Mythen, Musik, Mode, Ingenieurskunst nach ihren spezifischen Wissensinhalten, die ein Ganzes ergeben sollten. In einer Editionsreihe, die er beim Pariser Verlag Fayard gegründet hatte, versuchte er Werken der französischen Moralphilosophie, die er gegenüber der angelsächsischen Pragmatik und der deutschen Metaphysik in den Hintergrund gedrängt sah, wieder größere Verbreitung zu verschaffen.

Es verwunderte nicht, dass die Debatte der letzten Jahre um die künstliche Intelligenz und die "Überwindung des Menschen" sein besonderes Interesse weckte. Schon im Buch "Hominiscence" (Menschwerdung) brachte Serres 2001 sein Vertrauen in die immer neue Selbsterschaffung des Menschen, die vor den Errungenschaften der Biotechnologie keine Angst zu haben brauche, zum Ausdruck. Ebenso entschieden warnte er aber zugleich vor den Risiken eines gedankenlos szientistischen Fortschrittsglaubens und Technokratenwissens.

Wie ein pointillistischer Maler tüpfelte Serres, der 2012 an der Universität Köln mit dem Meister-Eckhart-Preis ausgezeichnet wurde, in seinen letzten Publikationen seinen mitunter geradezu forciert wirkenden Optimismus in die bald euphorisch, bald panisch aufgeregten Gegenwartsdebatten. "Solitude" (Einsamkeit) nannte er 2015 den mit seinem Sohn Jean-François Serres geführten "Dialog über das Engagement". Ironisch gemeint war der Titel seines Essays "C'était mieux avant!" (2017): Früher war alles besser. Erst vor wenigen Wochen kam sein Buch "Morales espiègles" (Schalksmoral) heraus. Am Samstag ist der hartnäckig gut gelaunte Denker Michel Serres im Alter von 88 Jahren in Paris gestorben.

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SZ vom 03.06.2019
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