Zum Tod von Günter Kunert:Vom Zwang, genau hinzusehen

Günter Kunert im Alter von 90 Jahren gestorben

Günter Kunert ist im Alter von 90 Jahren verstorben.

(Foto: dpa)
  • Am Samstag ist der Schriftsteller und Dichter Günter Kunert im Alter von 90 Jahren gestorben.
  • Als pessimistischer Hellseher sezierte er Umweltkatastrophen genauso wie politische Schräglagen - und fiel auch durch seine kritische Haltung gegenüber des DDR-Regimes auf.
  • Für sein literarisches Werk wurde Kunert unter anderem mit dem Heinrich-Mann-Preis und dem Johannes-R.-Becher-Preis ausgezeichnet.

Nachruf von Frauke Meyer-Gosau

Dass ein Hellseher, der nicht schwarzsieht, seine Berufsbezeichnung nicht verdient, war Günter Kunerts feste Überzeugung - und zugleich eine kurz gefasste Beschreibung dessen, was er selbst zu seiner Lebens- und Schreibhaltung gemacht hatte: auf dem Hintergrund schwärzester Erwartungen bei allen Erscheinungen der Wirklichkeit ganz genau hinzusehen.

Kunerts Lebensgeschichte, die sich liest wie eine exemplarische deutsche Biografie des 20. Jahrhunderts mit schließlich immer wieder unvermutet glückhaften Wendungen, hatte ihm für diesen Imperativ Anlass genug gegeben. 1929 in Berlin als Kind einer jüdischen Mutter geboren - das NS-Regime löschte fast seine gesamte mütterliche Familie aus -, aufgrund der Rassegesetze vom Besuch einer weiterführenden Schule ausgeschlossen, wollte er nach dem Ende des Krieges aktiv dabei sein, wenn die Welt grundlegend verändert wurde. 1949 trat Günter Kunert in die SED ein. Und wurde als junger Autor zum Protegé erst von Johannes R. Becher, dann von dessen literarischem Antipoden Bertolt Brecht. Alles schien für Kunert, der sein Grafikstudium an der Kunsthochschule in Berlin Weißensee nach fünf Semestern abgebrochen hatte, in den systemkonformen Schriftstellerbahnen des "Ersten Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden" bestens zu laufen.

SED-Mitglied, gefördert von Brecht und Becher, aber intellektuell unabhängig

Wäre da nicht dieser unüberwindliche innere Zwang gewesen, genau hinzusehen, eigenständig zu denken und die Ergebnisse dieses Sehens und Denkens literarisch in alle erdenklichen Formen zu fassen. Kunerts Werk umspannt Lyrik ebenso wie Romane, Erzählungen, Märchen, Parabeln, Reiseberichte, Hörspiele, Drehbücher und Essays, und da er nicht mit übertriebener Bescheidenheit geschlagen war, sah er sich selbst zeitweilig als einen nahen Verwandten, wenn nicht den rechtmäßigen Erben und Nachfolger Montaignes. Zugleich aber machte er sich auch über die Funktion und Rolle des Schriftstellers in der DDR keinerlei Illusionen, die "Legende vom Golem" galt ihm als eine Parabel auf das, was er als Autor tat und nach Meinung der Staatsoberen zu tun hatte: "dienstbar der Allgemeinheit. Vor allem für niedere Arbeiten: Seelsorge / Sinnstiftung und anderen Zeitvertreib. / Wehe, wenn ihn Autonomie befällt. / Rasend zerschlägt er / allerlei metaphorisches Porzellan. / Bis man ihn bändigt / damit er wieder werde / wie jedermann Lehmklotz /sündelos: wortlos."

Und genauso kam es. Kunert, 1962 mit dem Heinrich-Mann-Preis und noch 1973 mit dem Johannes-R.-Becher-Preis ausgezeichnet, war klug, aber auch risikofreudig genug gewesen, seit 1966 seine Gedichte und Prosa auch im Westen erscheinen zu lassen und sich so schon früh in beiden deutschen Staaten als eine nicht zu überhörende Stimme zu etablieren. Einladungen in den Westen schärften den Blick des begeisterten Reisenden für das eigene Land und dessen grundlegende Mängel.

Bereits 1962 hatte er mit dem "Monolog für einen Taxifahrer" das Drehbuch für einen der erst nach der Wende an die Öffentlichkeit gelangenden gesellschaftskritischen DDR-"Tresorfilme" geschrieben und war damit bereits zu einer Zeit politisch angeeckt, als das Parteimitglied Kunert noch hoffte, die weitere Entwicklung des Staates werde unvermeidlich auch zur Freiheit der Kunst führen.

Ein Gang ins Schneckenhaus der Gedanken

Als im November 1976 sein Freund Wolf Biermann ausgebürgert wurde, war dann klar, dass gerade das Gegenteil der Fall sein würde - Kunert gehörte zu den Erst-Unterzeichnern der Künstler-Petition an die Führung der SED, ihre Entscheidung "noch einmal zu überdenken". Und verließ, 1977 aus der Partei ausgeschlossen, zwei Jahre später die DDR mit einem mehrjährigen Visum. Fortan lebte und arbeitete er in der Nähe der zwei Jahre vor ihm ausgereisten Lyrikerin Sarah Kirsch auf dem platten Land in Schleswig-Holstein.

Scharfsichtig wie nur wenige zu der Zeit sah der schwarzsehende Hellseher schon 1992, wie vielen seiner ehemaligen Mitbürger ihr gerade untergegangenes Land alsbald erscheinen würde: "So kommt heute schon vielen bundesrepublikanischen Neubürgern die DDR als entschwundene, gar gestohlene Heimat vor. Wie immer arbeitet unterhalb des Erinnerungsvermögens ein Kobold daran, das Gestern zu verschönen, und so ist - ich garantiere dafür - damit zu rechnen, dass wir Biographien und Memoiren zu lesen kriegen werden, die dieses geschönte Bild enthalten."

Seinen Tod beschrieb er vor vierzig Jahren - "Voraussichtlich: langsames Verglimmen"

Viel mehr Realist als Pessimist, gehörte Kunert zu denen, die sowohl politische Schräglagen wie auch die ökologische Katastrophe heraufkommen sahen, eine finstere Weltsicht, nicht selten mit beißender Heiterkeit vorgetragen. Je länger dieses Schreib-Leben dauerte, umso mehr nahmen die Wahrnehmungen und damit auch seine Schriften allerdings Züge eines kultivierten Katastrophismus an, das war als Lektüre nicht immer leicht zu ertragen. Die Sprache seiner literarischen Prosa indes blieb, wie er sie sich über Jahrzehnte erarbeitet hatte: ein Gang ins Schneckenhaus der Gedanken und Beobachtungen eines nachgerade manisch in die Wirklichkeit vertieften Einzelwesens, das sich intensiv dieser Welt verbinden will, ihr die Verbindung aber nicht leicht machen kann: eine Art chiffriertes, vom Leser immer neu und selbständig zu entschlüsselndes Wahrsprechen.

Dass sein Verlag ihm zum 90. Geburtstag die Veröffentlichung des Schubladen-Romans "Die zweite Frau" aus dem Jahr 1974 schenkte, ermöglichte kurz vor Kunerts Lebensende schließlich noch einmal die mitunter verstörende Begegnung mit einem robusten, gnadenlos humoristischen Autor, dem es Spaß machen konnte, Spießigkeit, Unfähigkeit und offensiven Biedersinn durchaus auch ohne Rücksicht auf literarische Verluste frontal anzugehen.

Auch diese Seite der herausragenden, in der Lyrik ganz zu ihrer Form und Sprache findenden Literatur-Erscheinung Günter Kunert wird bewahrt werden - als ein Kennzeichen der finsteren Zeiten, die er zwischen 1929 und 2019 mutig, sarkastisch, heiter und ungebrochen durchwandert hat. Sein eigenes Ende hatte er vor mehr als vierzig Jahren so beschrieben: "Voraussichtlich: langsames Verglimmen. Winziger Punkt, rötlich und zitternd, der kleiner und dunkler wird, wie ein Stern, von dem man nicht weiß, erlischt er oder bewegt er sich davon." Am Sonnabend ist der neunzigjährige Günter Kunert in Kaisborstel an den Folgen einer Lungenentzündung gestorben.

Zur SZ-Startseite

Verfemte DDR-Autoren
:Die Unerhörten

Viele Autorinnen und Autoren aus der DDR wurden zensiert und hätten ihre Texte nie auf der Leipziger Buchmesse vorstellen können. Die SZ erinnert an acht von ihnen.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: