Nachruf:Gründe der Ungleicheit

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Der Sozialhistoriker Immanuel Wallerstein war ein wichtiger Analytiker - und Kritiker - des globalen Kapitalismus.

Von Werner Plumpe

Der Amerikaner Immanuel Wallerstein, Sohn deutscher Auswanderer, war eine der fruchtbarsten und einflussreichsten Analytiker der modernen Weltwirtschaft und ihrer historischen Genealogie. Am Samstag ist er im Alter von 88 Jahren gestorben.

An der New Yorker Columbia-Universität studierte Wallerstein in den Fünfzigerjahren Soziologie. Er setzte sich zunächst mit den Problemen des postkolonialen Afrika auseinander, bis er dann seit den Siebzigerjahren Elemente der französischen "Annales"-Schule, der Dependenztheorien und bestimmte marxistische Annahmen zu einer neuen globalen Perspektive verknüpfte, die er Weltsystemanalyse nannte. Dieser Ansatz fand seinen Niederschlag in Wallersteins vierbändigem, auch auf Deutsch vorliegendem Hauptwerk "Das moderne Weltsystem", einer Art Globalgeschichte des Kapitalismus vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart.

Zentrale Annahme dieser Analyse ist die Entstehung und dauerhafte, machtgestützte Verfestigung globaler Asymmetrien. Am Anfang stehen Produktivitätsunterschiede, die schließlich zu einer selbstverstärkenden Arbeitsteilung zwischen Zentren, Semiperipherien und Peripherien führen. Der "ungleiche Tausch", eine Annahme der Dependenztheorien, bekommt hier große Bedeutung; seinen Ausgangspunkt hat er in den arbeitsteiligen Strukturen zwischen hoch- und weniger produktiven Wirtschaften.

Durch diese Strukturen, so die Erklärung, entsteht ein kontinuierlicher Abfluss von Mehrwert aus der Peripherie in das Zentrum. Denn die weniger produktiven Zonen müssen erheblich mehr Arbeit aufwenden, um die Güter der hochproduktiven Zonen zu tauschen, als dort zur Herstellung dieser Güter notwendig ist. Dieser Zufluss von Mehrwert ermöglicht es wiederum dem Zentrum, seine eigene Position im Zweifelsfall durch den Einsatz von Machtmitteln zu stabilisieren.

Im Kern eines derart konstruierten ökonomischen Weltsystems findet sich also eine durch Zwang und Gewalt stabilisierte Ungleichheit. Zentrum, Semiperipherie und Peripherie sind dabei keine feststehenden regionalen Größen, sondern können sich ebenso wandeln wie sie in sich differenziert sind; die globale Asymmetrie ist allerdings konstitutiv und auch ihre gegebene Struktur eines starken Nord-Süd-Gefälles zwar nicht zwingend, aber historisch von großer Pfadabhängigkeit.

In den Zentren wiederum ist die Konkurrenz groß; Immanuel Wallerstein identifizierte bis zur Gegenwart drei konkurrierende Zentren, von den Niederlanden über Großbritannien zu den USA, deren Bedeutung er aber bereits seit den Siebzigerjahren im Niedergang sah. Die gegenwärtige Polarisierung zwischen den USA und China könnte diese Annahmen bestätigen, doch traute Wallerstein China ökonomisch und politisch viel weniger zu, als dessen Kritiker in den USA derzeit zu befürchten scheinen; China als Zukunftszentrum des Kapitalismus war für Wallerstein schwer vorstellbar.

Wallersteins Perspektive auf das kapitalistische Weltsystem, das er für ein historisches Phänomen mit Beginn, Aufstieg, Dominanz, Abstieg und Ende hielt, war von Anfang an politisch gefärbt, auch wenn er keineswegs eine eindeutige marxistische Position bezog. Für ihn waren die globalen Asymmetrien weder zu rechtfertigen noch dauerhaft vorstellbar. Geprägt von Fernard Braudels Annahme der "langen Wellen" historischen Wandels, sah er das kapitalistische Weltsystem vielmehr von zyklischen Krisen und politischen Kämpfen bestimmt, ja ging von einer Überdehnung seiner Möglichkeiten aus, die zu dessen struktureller Krise und zu einer mit politischen Kämpfen verbundenen Phase des Niedergangs führen würden, bevor der Kapitalismus ganz untergehe. Das war und ist für die ältere Kritik am Imperialismus des Nordens, an der Asymmetrie der Ungleichheit und jüngst für die Globalisierungskritik, denen sich Wallerstein politisch verbunden fühlte, hoch anschlussfähig.

Betrachtet man sein Lebenswerk insgesamt, so war Wallerstein zu gleichen Teilen Wirtschaftssoziologe, Sozialhistoriker und politischer Schriftsteller, der wohl auch wegen seines politischen Engagements Anfang der Siebziger von der Columbia-Universität an die kanadische McGill-Universität wechseln musste, bevor er an der New Yorker Binghampton Universität seinen Platz fand. In seinen letzten Jahren an der Yale-Universität forschend und nicht zuletzt in Frankreich hochgeehrt, blieb er bis zuletzt der Kritiker des globalen Kapitalismus. Seine Sicherheit, dieser gehe wie jedes historische Phänomen unter, hatte dabei etwas Bestechendes, das freilich nur solange gilt, so lange man Immanuel Wallersteins Systemanalyse teilt. Ob sie historisch zutrifft, wird er nun nicht mehr erleben.

© SZ vom 03.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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