Süddeutsche Zeitung

Nachruf:Germanist und Autor Walter Hinck ist tot

Er war ein unermüdlicher Schreiber und legendärer Lehrer. Nun ist Walter Hinck mit 93 Jahren gestorben.

Von Volker Breidecker

Für einen seiner letzten öffentlichen Auftritte hatte sich der Träger auch eines Literaturpreises für grotesken Humor die Buchhandlung Trotzkopp im pfälzischen Landau ausgesucht: Walter Hinck, emeritierter Germanistikprofessor, Literaturkritiker und passionierter Träger einer "Batschkapp", saß dort am Abend seines 90. Geburtstags an der Seite seiner alten Schülerin Ulla Hahn und las eigene Erzählungen. "Batschkapp" sagt man zur Schiebermütze der Marke Stetson nicht nur in der Pfalz, wo Hinck seinen Lebensabend verbrachte, sondern auch am Sitz der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Dort zählt man rund neunhundert Rezensionen, die Hinck in vier Jahrzehnten für das Feuilleton des Blattes verfasst hatte - hinzu kommen die vielen Bücher aus seiner unermüdlichen Feder, darunter wissenschaftliche, essayistische, autobiografische ebenso wie erzählerische Werke.

Dabei war der 1922 geborene Sohn eines Schneiders spät im Nachkriegsdeutschland angekommen. Der Krieg dauerte für ihn noch fünf Jahre länger, die er in einem jugoslawischen Gefangenenlager zubrachte, weil er sich der Zusammenarbeit mit Titos Geheimdienst verweigert hatte. Aus Erfahrungen, in denen sich das Jahrhundert traumatisch verdichtete, dürfte auch die ungewöhnliche Originalität und Kreativität des Philologen ihre Nahrung bezogen haben: Die Neuere Deutsche Literatur, der Hinck sich seit 1964 an seinem zur Legende gewordenen Kölner Lehrstuhl verschrieben hatte, war ihm lebendige Quelle der Erkenntnis der Gegenwart, ihrer Geschichte wie Vorgeschichte.

Im pechschwarzen Göttingen der Fünfzigerjahre über Brechts episches Theater zu promovieren war damals ein Sakrileg, vor dem Hinck ebenso wenig zurückschreckte wie vor dem Nachweis des Eingangs von Bühnentraditionen der Commedia dell'Arte in die geheiligte barocke und klassische deutsche Trauerspiel- und Tragödiendichtung. Konsequent entlang der Ränder und kritischen Zonen erschloss sich Hinck das gesamte Spektrum und sämtliche Gattungen seines Fachs. Am treuesten sah er sich wohl seinem Lieblingsdichter Heinrich Heine und mit ihm der ganzen Tradition deutscher Außenseiter und Exilanten verpflichtet: Heines Leiden an Deutschland, dem Deutschland der Franzosenfresser und Antisemiten, widmete Hinck eines seiner Hauptwerke ("Die Wunde Deutschland", 1990). In "Gesang der Verbannten" (2011) befragte Hinck die deutschsprachige Exillyrik gleich mehrerer Jahrhunderte - statt nach den üblichen Verlusten - nach dem Gewinn von Trennungserfahrungen als Quellen schöpferischer Antriebe. Am Freitag voriger Woche ist Walter Hinck in Landau gestorben.

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SZ vom 26.08.2015
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