Süddeutsche Zeitung

Nachruf:Genau und sensibel

Der Historiker Reinhard Rürup hat die Berliner Gedenkstätte Topographie des Terrors konzipiert und bis 2004 geleitet. Jetzt ist der Wissenschaftler, der stets einen Bogen zwischen Gesellschaft und Forschung schlug, gestorben.

Von Jürgen Kocka

Geschichtswissenschaftliche Arbeit höchster Qualität und öffentliches Engagement so zu verbinden, dass man Wissenschaftler bleibt, aber in die Gesellschaft wirkt, ist schwierig. Reinhard Rürup, der 83-jährig am vergangenen Freitag in Berlin starb, ist dies in idealer Weise gelungen.

Die kritische Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus ist eine tragende Säule der Demokratie der Bundesrepublik. Zum Aufbau dieser Erinnerungskultur hat kein deutscher Historiker mehr beigetragen als Reinhard Rürup. Dass die Geschichte der Juden zu einem wichtigen Feld der deutschen Gesellschaftsgeschichte wurde, ist vor allem sein Verdienst. All das schaffte der gebürtige Westfale mit seiner ungewöhnlichen Mischung aus Sturheit und Wendigkeit, Grundsatztreue und Experimentierfreudigkeit, mit viel Augenmaß, Genauigkeit und Mut zu Neuem.

Als Rürup 1975 Professor für Neuere Geschichte an der TU Berlin wurde, propagierte er Geschichte als Historische Sozialwissenschaft mit besonderer Betonung der Gesellschaftsgeschichte und analytischer Zugriffe, mit Offenheit gegenüber den systematischen Nachbarwissenschaften, traditionskritisch und mit Sinn für die öffentlichen Aufgaben der Historie. Er tat dies im Schulterschluss mit den Bielefelder Sozialhistorikern. Er gehörte mit Hans-Ulrich Wehler, Reinhart Koselleck, Wolfgang Mommsen und anderen zu den Gründern der Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft. Dieser Orientierung blieb Rürup auf sehr pragmatische Weise treu. Aber sie hatte bei ihm eine spezifische Färbung, die sich zunächst aus Rürups Werdegang ergab.

Er hatte in Göttingen über ein Thema des 18. Jahrhunderts promoviert, über Pietismus, Reformen und den Staatsrechtler Johann Jacob Moser. So konnte Rürup auch seine späteren Forschungen zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft und des Liberalismus in lange Zeitperspektiven rücken. Als Assistent von Thomas Nipperdey kam er 1967 an die Freie Universität Berlin. Er überstand die dortige Kampfzeit mit Bravour: Weder wurde er wie viele andere in der Abwehr überschießender Studentenproteste konservativ, noch biederte er sich bei den Protestlern an. Er blieb Sozialdemokrat und Reformer und erarbeitete sich ein neues Forschungsgebiet: die Geschichte der Revolution von 1918/19 und der Rätebewegung.

Zugleich veröffentlichte er bahnbrechend zur Geschichte der Juden-Emanzipation und des Antisemitismus in Deutschland. Er arbeitete sich in die Geschichte seiner neuen Arbeitsstelle ein, der Technischen Universität Berlin, und trat, zusammen mit Karin Hausen, auf dem Gebiet der Technik-und Wissenschaftsgeschichte hervor, die sie - neuartig - als Teile der Gesellschaftsgeschichte auffassten.

In seinen fast 25 Jahren im Institut für Geschichte der TU Berlin hat er maßgeblich zu dessen fulminantem Aufstieg beigetragen. Er war führend an der Gründung von Forschungszentren beteiligt, die der TU internationale Sichtbarkeit auch in den Geisteswissenschaften verschafften und die zum Teil immer noch bestehen: die Zentren für Antisemitismus-Forschung, für Frauen- und Geschlechterforschung sowie für Frankreich-Studien.

Rürup konzipierte das Dokumentationszentrum Topographie des Terrors

Er setzte sich für neue Formen in der Lehre ein, etwa durch intensiv betreute Praktika. Vieles von diesen Reformen wirkte über die TU hinaus, auch durch Rürups Engagement in zahlreichen Beratungsgremien.

Rürup trug erheblich zum Erfolg der Berliner Preußen-Ausstellung 1981 bei, die eine Versachlichung der historischen Preußen-Forschung einleitete. 1987 fungierte er mit Gottfried Korff als wissenschaftlicher Leiter der großen Jubiläumsausstellung "Berlin - Berlin". Beide Ausstellungen fanden im Martin-Gropius-Bau statt.

Daraus ergab sich die archäologische Erschließung des unmittelbar benachbarten Geländes, auf dem die Terrorzentrale des Dritten Reichs, das Reichssicherheitshauptamt gestanden hatte. Hier entstand nun das Dokumentationszentrum "Topographie des Terrors", sein Lebenswerk, das Rürup konzipierte, bis 2004 wissenschaftlich leitete und zu einem der wichtigsten Gedenkorte der Hauptstadt weiterentwickelte.

Um die Geschichte der Wissenschaften und ihrer Verführbarkeit ging es in dem umfangreichen, öffentlich stark beachteten Forschungsprogramm "Geschichte der Kaiser Wilhelm Gesellschaft im Nationalsozialismus", das Rürup zusammen mit Wolfgang Schieder 1999 bis 2004 leitete.

Mit all dem wurden der öffentliche Umgang mit der deutschen Geschichte und die Debatten zur deutschen Erinnerungskultur zu einem zentralen Arbeitsbereich Rürups. Sein Rat zählte beim Aufbau des Deutschen Historischen Museums, des Denkmals für die Ermordung der Juden Europas wie auch bei der Einrichtung von Gedenkstätten nach der Wiedervereinigung. Dabei ging es oft um das Verhältnis der Geschichte beider deutscher Diktaturen und ihrer Nachwirkungen. Das erforderte historische Genauigkeit, politisches Fingerspitzengefühl und Unbestechlichkeit des Urteils, Qualitäten, die Rürup in hohem Maße besaß.

Rürup wurde vielfach geehrt. Sein internationales Renommee war enorm. Der 1934 Geborene war kein Achtundsechziger. Aber seine Biografie zeigt, wie sehr sich politisches Engagement und wissenschaftliches Arbeiten damals gegenseitig befördern konnten: ein oft übersehener Aspekt in der Erinnerung an 1968. Ohne Rürups Wirken sähen die Geschichtswissenschaft und die politische Kultur der Bundesrepublik anders aus, ärmer. In ihm geht eine Berliner Institution, eine wissenschaftliche und moralische Instanz, in vieler Hinsicht ein Vorbild. Er stellte Weichen, die weiterwirken.

Jürgen Kocka, Jahrgang 1941, lehrte als Sozialhistoriker an der FU Berlin.

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SZ vom 09.04.2018
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