Süddeutsche Zeitung

Fotograf Arnold Odermatt gestorben:Kunst der Karambolage

Verkehrspolizist und Fotokünstler: Arnold Odermatt war der stets ruhige Chronist des Schreckens. Ein Nachruf

Von Jörg Häntzschel

In Jean-Luc Godards Film "Week End" sind Verkehrsunfälle Metaphern für das Verglühen des Kapitalismus. In David Cronenbergs "Crash" sind sie Fetisch und Lusttraum. Arnold Odermatt hingegen fotografiert sie mit stets ruhigem Puls: Die eleganten Kollisionen wie die der beiden Wagen, die an gegenüberliegende Mäuerchen geprallt sind und nun ein symmetrisches Dreieck bilden. Die dramatischen Crashs, bei denen die Autos zu grotesken Ungeheuern verformt wurden. Auch die Szenen, bei denen Odermatt vielleicht sogar ein bisschen lächeln musste, bevor er es schnell unterdrückte: Wie die mit dem VW-Bus, der inmitten verstreuter Werbeplakate auf dem Dach liegt: "Poulets nur 1 Fr". Odermatt, geboren 1925, war Schweizer - und Polizist.

Als er 1948 seinen Dienst antrat, galten Fotos in Unfallberichten noch als wenig seriös. Skizzen fand man objektiver. Odermatt, der Hobbyfotograf, nahm dennoch seine Rolleiflex mit, wenn sich wieder einer um einen Laternenmast gewickelt hatte oder aus der Kurve geflogen war. Allmählich gelang es ihm auch, seinen Vorgesetzten von den Vorzügen der Kamera zu überzeugen.

Es war Odermatts Sohn, der nach dessen Pensionierung 1990 das riesige Archiv seines Vaters entdeckte und die Qualität der Aufnahmen erkannte. "Meine Welt", hieß sein 1993 erschienener erster Bildband. 1998 folgte die erste Ausstellung mit den Aufnahmen aus dem bekanntesten Odermatt-Band "Karambolage". 2001 zeigte der Kurator Harald Szeemann die Bilder auf der Biennale von Venedig. Spätestens damit war der pensionierte Verkehrspolizist als Künstler etabliert.

"Ein gutes Foto ist scharf"

Das Quietschen der Reifen, das Krachen von Blech und Glas, die Sirenen, all das war verstummt, wenn Odermatt auf den Auslöser drückte. Von den Pirouetten, die die Autos nach dem Aufprall vollführt hatten, zeugten nur noch Bremsspuren und weiße Markierungen. Die Verletzten oder Toten waren abtransportiert. Der Schock hatte sich gelegt. Genau das scheint Odermatt interessiert zu haben: Was passiert mit dem Schockierenden, wenn es nicht mehr schockiert? Manchmal drücken sich am Bildrand noch Schaulustige herum. Oft aber erscheinen die Orte verwaist, als habe man nicht vor, die zerstörten Autos mit den weit offen stehenden Türen je zu beseitigen.

Berühmt ist Odermatt für seine Unfallbilder. Doch er fotografierte auch Schulkinder, Käser und Hochzeitspaare. Vor allem aber seine Kollegen: bei der Geschwindigkeitskontrolle, auf der Wache, mit Kalender der örtlichen Autowerkstatt an der Wand. Die Bilder sollten dazu dienen, Schulabgänger für den Polizeidienst zu erwärmen. Doch dass diese Kampagne viel Erfolg hatte, darf man bezweifeln.

So subtil, als habe er es selbst nicht bemerkt, bricht bei ihm unweigerlich das Surreale ins Normale ein. Ein Polizist, der sich gerade mit Fingerabdrücken beschäftigt, zieht einen fremden Arm heran. Die Vorführung einer Mund-zu-Mund-Beatmung wird von einer Runde von Männern in Badehosen beobachtet wie ein obskures Ritual. Auf der Polizeiwache bändigt ein Mann mit Hut nur mit Mühe einen riesigen Raubvogel, der über Stempeln und Telefon aufflattert. Er selbst fand offenbar nichts Besonderes an seinen Bildern: "Ein gutes Foto ist scharf", erklärte er einmal. Am Samstag ist Arnold Odermatt im Alter von 96 Jahren in Stans gestorben.

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