Süddeutsche Zeitung

Nachruf:Er war so frei

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Man konnte ihn im TV anschauen oder seine tolle Übersetzung des Neuen Testaments lesen. Richtig nah kam man ihm aber nur live. Der Theologe Jörg Zink ist gestorben.

Von Matthias Drobinski

Jörg Zink konnte die Menschen mit Wörtern fesseln, sie mitnehmen auf seine Gedankenreisen, und wer wissen wollte warum, der durfte ihn nicht im Fernsehen anschauen, wo er mehr als hundertmal das "Wort zum Sonntag" sprach, der durfte nicht einmal so sehr eines seiner fast 300 Bücher lesen. Wer die Faszination von Jörg Zink erleben wollte, musste einen evangelischen Kirchentag besuchen, früh aufstehen und sich in einen der überfüllten Räume quetschen, in denen er seine Bibelarbeiten hielt.

Man musste ihm zuhören, dem Mann mit der weißen Mähne und den Augenbrauen, die mal einen Kamm gebraucht hätten, wie er da schwäbelte, vom Alter gebeugt, und mit gewöhnlichen Worten Ungewöhnliches sagte, über Gott und die Bibel, die Umwelt, den Frieden. Zink war der protestantische Inspirator der Friedens- und Umweltbewegung in den Achtzigerjahren, dafür ist er verehrt und angefeindet worden. Doch zuerst war er Theologe, Pfarrer, Christ, der mit einfachen Worten übers Tiefe und Transzendente reden konnte und über die Folgen, die das Tiefe und Transzendente im konkreten Leben hat. Wenn man ihm zuhörte, dann war es nach einer Weile, als wäre da einer persönlich zu einem ins Wohnzimmer gekommen und hätte einfach angefangen zu reden; dies war eine Gabe, die nicht viele Theologen haben.

Er hatte sie auch, weil sein Glaube aus existenziellen Erfahrungen heraus lebte. Da war der frühe Tod der Eltern. Und dann, am 8. März 1944, der 22-Jährige war Bordfunker in Hitlers Luftwaffe, hatte er hoch im Himmel, zwischen all dem Töten und Getötetwerden, ein Erlebnis, das er als Gotteserfahrung beschrieb, als "Himmel meines Lebens", wie er es formulierte. Einen Monat später wurde sein Flugzeug abgeschossen. Er überlebte, und in britischer Kriegsgefangenschaft begann er, die Bibel zu lesen; das Buch sollte ihn nicht mehr loslassen.

Wer dem Tod so nahe war, denkt anders über das Leben. Manche setzen danach ängstlich alles daran, das gerade so Gerettete zu bewahren. Jörg Zink dagegen wurde frei. Er war so frei, schon zu Beginn der Sechzigerjahre Kontakte zur evangelischen Kirche in der DDR zu pflegen, dem Misstrauen im Osten wie im Westen zum Trotz.

Er war so frei, als Fernsehpfarrer am 14. Oktober 1977, als Terroristen die Lufthansa-Maschine "Landshut" nach Somalia entführt hatten und mit der Erschießung aller Geiseln am nächsten Morgen drohten, einfach das Manuskript wegzulegen und ohne jede Rücksprache mit den Rundfunkgewaltigen in die Kamera zu reden. Er sprach über das Dilemma der Verantwortung; über die unausweichliche Schuld, wenn jemand über Leben und Tod entscheidet; er bat am Ende "um einen Hauch jenes Friedens, der unsere Menschenvernunft übersteigt". Und Jörg Zink war so frei, am Abend vor der Landtagswahl in Baden-Württemberg 1979 im Fernsehen über die Umweltzerstörung zu reden - was ihm als Wahlhilfe für die gerade gegründeten Grünen übelgenommen wurde.

Wenn einer fast 300 Bücher schreibt, bleibt es nicht aus, dass es zu vielen Variationen des schon Gesagten kommt, so war es auch bei Jörg Zink. Ein wirklich großes Werk aber ist ihm mit seiner 1965 veröffentlichten Übersetzung des Neuen Testaments in ein heutiges Deutsch gelungen - weil er nahe am griechischen Urtext blieb und doch eine Sprache fand, die auch heute noch packt und fasziniert.

Am vergangenen Freitag ist, wie am Montag bekannt wurde, Jörg Zink im Alter von 93 Jahren in Stuttgart gestorben.

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Quelle:
SZ vom 13.09.2016
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