Nachruf:Die Wurzel der Revolution

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Die revolutionäre Dichterin Eva Hesse (1925-2020). (Foto: N/A)

Die große Avantgardistin und Übersetzerin Eva Hesse ist gestorben.

Von Willi Winkler

Im Canto 102 tritt sie als Co-Autorin auf, wird erwähnt zwischen Yeats, Eliot, Wyndham Lewis und natürlich Homer: "Eva bekam den Vers über 'Freiheit' hin", in einem anderen erscheint auch ihr "Pa", der Ribbentrop-Diplomat Fritz Hesse, der sich nach dem Krieg eine eigene Friedensmission zuschrieb und noch 1960 meinte, den BND-Chef Gehlen vor "drei Halbjuden" in der Deutschen Botschaft in London warnen zu müssen. Vor diesem autoritären Vater rettete sich Eva Hesse zum "Stamme Ez", einer verschworenen Gemeinde, die sich in den Fünfzigern auf Schloss Brunnenburg in Südtirol traf und auf die Rückkehr des Meisters wartete.

Ezra Pound, der in Rundfunkansprachen Mussolini gefeiert, Roosevelt zum Verbrecher erklärt und die Juden der Weltverschwörung angeklagt hatte, war nach Kriegsende im Irrenasyl St. Elizabeths in der US-Hauptstadt Washington eingesperrt worden. Da er zwar verrückt und verbohrt, aber auch einer der bedeutendsten Dichter des 20. Jahrhunderts war, erreichten Ernest Hemingway und T. S. Eliot 1958 seine Freilassung. Ohne Eva Hesse wäre Pound nicht mehr neu in die Welt gekommen.

Schon früh wurde ihr attestiert, sie übertrage mit "tiefem Mitempfinden"

E.E.Cummings hatte sie auf den Mann gebracht, der ihr Lebensthema und der größte Teil ihres Lebenswerks werden sollte. Sie holte ihn nach Deutschland, organisierte Lesungen für ihn, vor allem aber übersetzte sie ihn unermüdlich. Die vollständige Ausgabe der hoffnungslos wirren und gleichzeitig so großartigen "Cantos", wie immer zweisprachig und jeder Nachprüfung offen, erschien erst 2012 im Arche-Verlag und wurde mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichnet.

Sie erhielt noch eine Reihe weiterer Auszeichnungen, darunter den Ehrendoktor der Ludwig-Maximilians-Universität, doch war Eva Hesse war keine akademische Übersetzerin, sondern Liebhaberin. Früh schon wurde ihr attestiert, dass sie "mit tiefem Mitempfinden" übertrage. Wer Eliots "Waste Land" nur deutsch kennt (und dem damit die deutschen Einsprengsel entgehen), kennt den Anfang durch Eva Hesse: "Sommer kam unversehens, zog über den Starnberger See/Mit einem Wolkenbruch; wir gingen unter die Kolonnaden/Traten denn im Sonnenschein heraus in den Hofgarten/Auf einen Kaffee und ein Stündchen Plauschen./Bin gar keine Russin, stamm aus Litauen, echt deutsch."

"Alle rechtsstaatlichen Errungenschaften beruhen auf revolutionärer Gewalt"

Für ihre geliebten Dichter der letzten Avantgarde führte sie selber eine poetische, die letztmögliche Schwabinger Existenz und korrespondierte von einer winzigen Wohnung aus mit der angloamerikanischen Literatur. Bereits 1949 schrieb sie an Robinson Jeffers, den Botho Strauß vierzig Jahre später entdecken sollte, und brachte ihn im Bayerischen Rundfunk. Der einsiedlerische, weltabgewandte Dichter hatte Übertragungen von Eva Hesse gelesen und übertrug ihr die Rechte an seiner apokalyptischen "Kassandra": "Das wahnwitzige Mädchen mit stieren Augen und langen beinigen Fingern,/In die Steine der Mauer gekrallt,/Das Haar sturmverfilzt und gellend der Mund: was macht es schon aus, Kassandra,/Ob die Menschen/Deinem bitteren Springquell glauben? Freilich,/die Menschen hassen die Wahrheit."

1953 erschien eine Anthologie mit dem zeitgemäßen Titel "Meine schwarzen Hände. Moderne Negerlyrik in Original und Nachdichtung", eine heute gesuchte bibliophile Rarität. T. S. Eliot, Marianne Moore und Robert Frost fanden erst durch sie deutsche Leser. Langston Hughes, der sich lang vor allem black facing als "Minstrel Man", als Spielmann, verachtet sah, klang in ihrer Version nicht weniger ergreifend als der Shakespeare'sche Kaufmann von Venedig: "Nur weil mein Mund/Beim Lachen breit ist/Und meine Kehle/Voll Gesang,/Meint ihr, dass ich/Gar nicht leide,/da ich an mich hielt/Schon so lang?"

Da sie aus ihrem Herzen keine Mördergrube machte, konnte Eva Hesse im damals schwer leninistischen Hanser-Verlag 1974 ein umfassendes Werk über die "Wurzeln der Revolution" veröffentlichen. Darin hat sie, verziert durch den schönen Satz des Juristen Otto Schily "Alle rechtsstaatlichen Errungenschaften beruhen auf revolutionärer Gewalt", im Durchgang von Hobbes und Kant bis Che Guevara das Widerstandsrecht des Individuums gefordert. Das Werk wie ihr Leben endete hoffnungslos romantisch: "Unter dem Straßenpflaster liegt nach wie vor der Strand." Die revolutionäre Dichterin Eva Hesse ist vorgestern im Alter von 95 Jahren in München gestorben.

© SZ vom 01.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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