Süddeutsche Zeitung

Zum Tod von David Goldblatt:Die stille Oberfläche des Landes

Die Mission des südafrikanischen Fotografen David Goldblatt war es, "Dingen, die übersehen wurden, Ehre zu erweisen". Nun ist der große, eigenwillige Chronist der Apartheid-Ära im Alter von 87 Jahren gestorben.

Nachruf von Alex Rühle

Keine Ahnung, wie die Transitabläufe im Himmel so sind. Ob David Goldblatt überhaupt jetzt schon da oben ist. Und wenn ja, ob er nicht in diesen harschen Zeiten ohnehin an der Grenze zum Paradies abgewiesen wird. Sicher ist nur, was er den Zollbeamten entgegnen wird. Schließlich sagte er schon vor Jahren, wenn er im Himmel eines Tages gefragt werde, was er hier unten getrieben habe, laute seine Antwort: "Ich hatte als selbsternannter Beobachter und Kritiker meiner Zeit eine Schwäche dafür, Dingen, die übersehen wurden, Ehre zu erweisen."

Dinge, die übersehen wurden. Eine Hecke zum Beispiel, aus der Serie "Structures": eine menschenleere Komposition, auf den ersten Blick bukolisch, ja langweilig. Eine Hecke, die so im Saft steht, dass sie eine Parkbank überwuchert hat. Erst wenn man liest, dass diese Hecke 1660 von den ersten Siedlern gepflanzt wurde, um ihr Land abzugrenzen von den Khoi, die dort seit Jahrhunderten gelebt hatten, bekommt das Bild seine emblematische Sprengkraft: An dieser Stelle also wurde dem Land Südafrika die Segregation so tief eingepflanzt, dass die Hecke auch 300 Jahre später noch prächtig gedeiht.

An David Goldblatts himmlischem Eingangszitat ist aber noch etwas interessant: Er sagt, er habe eine "Schwäche dafür gehabt", den übersehenen Dingen eine Ehre zu erweisen, so als sei sein ganzes Werk nur Folge eines Lasters oder Hobbys. Großkünstler sprechen meist sehr anders von ihrem Werk, pardon, Œuvre. Alles Artistengetue aber war David Goldblatt völlig fremd. Er sah sich als Spurensucher, Handwerker, Gegenwartsethnologen, der mit der Kamera die stille Oberfläche des Landes abtastet nach Zeichen seiner Geschichte. Als er im Jahr 2000 im Münchner Kunstbau Bilder aus 50 Jahren für eine große Werkschau aufhängte, wirkte er auch eher wie der Hausmeister als wie der Mann, der mit seinen Schwarz-Weiß-Aufnahmen Fotogeschichte geschrieben hatte, Cargohose, zerknittertes Gesicht, sonnengegerbte Haut. "Oh", sagte er damals abwiegelnd, "ich hatte auch viel Glück, dass ich zur richtigen Zeit am richtigen Ort war."

Er zeigte keine plumpen schwarz- weißen Kontraste - so wurden seine Bilder umso eindringlicher

Gerade als David Goldblatt 1948 in dem Städtchen Randfontein seinen Schulabschluss machte, kam in Südafrika die National Party an die Macht und stellte die Weichen auf Apartheid. 1949 wurden Mischehen verboten, ein Jahr darauf unterteilte das Parlament die Bevölkerung des Landes qua Verfassung in verschiedene Rassen und bereitete einer institutionalisierten ethnischen Säuberung den Boden. Jeder "Rasse" wurden bestimmte Gegenden zugewiesen. 1953 trat dann der Bantu Education Act in Kraft, ein Gesetz, das garantierte, dass Schwarzen eine schlechtere Ausbildung zuteil wurde als Weißen. Goldblatt, 1930 in eine liberale jüdische Familie hineingeboren, die zu Beginn des Jahrhunderts vor der Judenverfolgung in Litauen geflohen war, konnte von der Peripherie aus dabei zusehen, wie der paternalistische Kolonialstil des britischen Regimes nach der Unabhängigkeit zügig und offen in das zynische Repressionssystem der Apartheid umgewandelt wurde. Das Besondere ist, wie er davon Zeugnis ablegte.

"Wenn das Foto nicht gut ist, war man nicht nah genug dran", schrieb Robert Capa. Dessen Fotoberichte und die soziodokumentarischen Aufnahmen von Walker Evans beeindruckten Goldblatt zu Beginn seiner Karriere tief. Er träumte zunächst vom hemingwayschen Leben des Frontberichterstatters, merkte aber bald, dass die harte Reportagefotografie seinem zurückhaltenden, nachdenklichen Temperament nicht entsprach. Was für ein Glück.

Das Dilemma vieler engagierter Kunst lässt sich vielleicht ganz gut in einer Umkehrung von Capas Satz zusammenfassen: "Wenn das Foto nicht gut ist, war man zu nah dran." Goldblatt verweigerte sich in seinen Schwarz-Weiß-Aufnahmen dem plumpen schwarz-weißen Rollenspiel; nie wird bei ihm die nackte Gewalt, die sensationelle Story vom Aufstand in den Homelands gezeigt. In einem Gespräch mit dem Kurator Okwui Enwesor, der ihn 2000 zur Documenta einlud, sagte Goldblatt: "Ich interessiere mich nicht für spektakuläre Ereignisse, sondern für die Zustände, die zu diesen Ereignissen führen, für die stillen Momente, die alles schon in sich bergen, was dann später passiert. Alles ist immer schon da, man muss nur genau hinschauen."

Was nun nicht bedeutet, dass er es sich im Schrebergärtchen seiner Kunst gemütlich gemacht hätte. Im Gegenteil, all seine Bilder von der südafrikanischen Normalität zeigen, wie unnormal diese Normalität war. 1972 zog er für ein halbes Jahr nach Soweto, um von innen heraus zu sehen, wie man in den Homelands lebt; er begleitete über Monate hinweg schwarze Goldminenarbeiter, die jeden Tag vier Stunden lang mit dem Bus zur Arbeit und wieder zurück gekarrt wurden; er nistete sich aber auch 1979 in dem weißen Suburb Boksburg ein und machte dort eine große Bilderserie: klaustrophobische Fotos einer klaustrophoben Gesellschaft, weiße Menschen mit Betonfrisuren und büroklammerdünnen Mündern in dunkelkammerstillen Interieurs, gardinenbleiche Wohnzimmer, man kann den sauren Schweiß der calvinistischen Ethik förmlich riechen. Schwarze tauchen auf diesen Bildern höchstens als dienstbar umherhuschende Schatten auf, die Weißen aber wirken in ihren Wohnungen wie in Bernstein eingefroren, Relikte aus einer präkambriumsfernen Zeit. Als diese Bilder kurz vor der WM 2010 in Johannesburg ausgestellt wurden, schrieb Goldblatt mit Edding an die Wand der Galerie: "Alles hat sich geändert. Wir brauchen dringend einen neuen Blick auf das Land."

In einem seiner letzten Interviews sagte Goldblatt im vergangenen Sommer: "Wir dürfen nie vergessen, dass der Preis für die Freiheit sehr hoch ist und dass man immer, immer an dieser Freiheit festhalten muss. Du darfst nicht nicht hinschauen, du musst immer weiter hinsehen, denn sonst kommt die Fäulnis angekrochen."

Am Montag ist David Goldblatt in seiner Heimatstadt Johannesburg im Alter von 87 Jahren "friedlich eingeschlafen", wie seine Galerie vermeldet. Sollten sie ihn im Himmel tatsächlich abweisen, dann können sie von uns aus ihr ganzes Paradies zumachen.

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Quelle:
SZ vom 26.06.2018
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