Nachruf:Der Unerschrockene

Nachruf: Rolf Peter Sieferle wurde 1949 geboren und 1977 über Marx promoviert. Seit 2000 lehrte er an der Universität St. Gallen Allgemeine Geschichte.

Rolf Peter Sieferle wurde 1949 geboren und 1977 über Marx promoviert. Seit 2000 lehrte er an der Universität St. Gallen Allgemeine Geschichte.

(Foto: Ammann und Siebrecht/Uni St. Gallen)

Der Zivilisationskritiker Rolf Peter Sieferle ist gestorben. Er beriet auch die Regierung. Sollte ihn dort jemand verstanden haben, könnte man sich in Zeiten zurückversetzt fühlen, als Gelehrte wie die Humboldts den preußischen Staat berieten.

Von Gustav Seibt

Anm. d. Red.: Der Nachruf auf Rolf Peter Sieferle entstand vor der Publikation von Nachlasswerken Sieferles im Frühjahr 2017, die das Bild dieses Autors stark verändern. Der Nachruf bildet daher nicht mehr das aktuelle Urteil von Gustav Seibt ab.

Rolf Peter Sieferles letzte Intervention war im Winterheft 2015/16 von Tumult zu lesen, der berühmt-berüchtigten Ausgabe der "Zeitschrift für Konsensstörung", die mit der deutschen Willkommenskultur abrechnete. Kühl wies Sieferle auf die weltgeschichtlich einmaligen, höchst fragilen Voraussetzungen des europäischen, für Migranten so attraktiven Sozial- und Nationalstaats hin. Der Nationalstaat ist nur nach innen universalistisch-egalitär, nach außen exklusiv, das ist sein Grundwiderspruch.

Er setzt ein historisch einzigartiges soziales Vertrauen voraus, das seine ökonomische Effizienz ermöglicht. Zu viele Neubürger aus tribalen und klientelistischen Kulturen würden ihn in Gefahr bringen. "Ein Ausbau des Sozialstaats bei gleichzeitiger Öffnung für Immigration ist zweifellos nicht nachhaltig", schrieb Sieferle. "Es wäre so, als drehte man die Heizung auf und öffnete gleichzeitig die Fenster."

Eine suggestive Formulierung, die an Sieferles zeitkritisches Hauptwerk erinnerte, den 1994 erschienenen Band "Epochenwechsel" und die universalhistorische Bilanz "Rückblick auf die Natur" von 1997, das brillanteste Werk des, wie jetzt erst bekannt wurde, am 17. September verstorbenen Historikers. Der 1949 geborene, seit 2000 in St. Gallen lehrende Rolf Peter Sieferle war ein Autor, dessen Register von terminologisch verdichteter Theorie bis zu kulturphysiognomischer Polemik reichte. Sieferles weitgehend selbstgeschaffenes Fachgebiet war die Naturgeschichte der menschlichen Gesellschaften, deren Funktionieren er aus ihrem Energiestoffwechsel ableiten konnte, und zwar bis in die Verästelungen von Verfassung und Lebensstil.

In atemberaubenden Übersichten von der Urzeit bis zur Digitalisierung lieferte er die Theorie, also die gedankenreiche Anschauung des Ausnahmezustands, in den sich die Menschheit seit der Industrialisierung begeben hat: durch eine Wirtschaftsweise, die über Millionen Jahre angesammelte fossile Energie verfeuert hat.

Sieferles Thema und zugleich Methodik war die Überprüfung des jeweiligen zivilisatorischen "Naturhaushalts". Warum standen im späten 19. Jahrhundert Stadthäuser eng gedrängt beieinander und hatten doch hohe Zimmerdecken, während sie heute locker verstreut im Grün der Vorstädte stehen, dafür aber niedrige enge Räume haben? Auch solchen Fragen, die von der Heizungstechnik, dem Verkehrswesen bis zu Lebensstil und Architekturdesign reichen, ging Sieferle nach.

Dass er sich auch von den kulturpessimistischen Zivilisationstheorien der vorletzten Jahrhundertwende, gar von der "Konservativen Revolution", die er ideenhistorisch aufarbeitete, anregen ließ, hat man ihm zum Vorwurf gemacht. Zu Unrecht. Sieferle war ein unerschrockener, immer rationaler Denker, der sich auch dann nicht aus der Ruhe bringen ließ, wenn er apokalyptische Möglichkeiten erwog. Konservativ war allenfalls sein Bewusstsein für natürliche Grenzen.

2010 verfasste er für den "Wissenschaftlichen Beirat Globale Umweltveränderungen" der Bundesregierung eine auch im Netz abrufbare Abhandlung "Lehren aus der Vergangenheit". Sie liefert auf nur 30 Seiten eine theoretisch hochverdichtete Gesamtsicht zur Menschheitsgeschichte von der neolithischen Revolution bis zur Energiewende. Sollte es im Bundesumweltministerium Beamte geben, die diesen Text verstehen, könnte man sich in jene Zeiten zurückversetzt fühlen, als Gelehrte wie die Humboldts den preußischen Staat berieten.

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