Am Montagmorgen verstarb John Berger in Paris, friedlich und versöhnt, nicht mit der Welt, aber mit dem Leben. Schon seit einem Jahr zeigte er gern ein Bild, das ihn schlafend auf der Couch zeigt, sein Gesicht im Mittelpunkt. Und während er den jungen Maler lobte, wurde es uns schon etwas wehmütig ums Herz, so friedlich schlafend hatten wir ihn noch nie gesehen, ihn, der immer in Bewegung war und sich die Haare raufte. Jetzt wissen wir, schon da hat er wieder als Erster um die Ecke geblickt.
Mit John Berger starb eine große intellektuelle europäische Gestalt. Bewundert und verehrt von Susan Sontag, Arundhati Roy, Tilda Swinton - um nur wenige Frauen zu nennen, für die seine Fernsehsendung der späten Sechzigerjahre zu einem großen Augenöffner geworden war: "Ways of Seeing", nach der das Buch "Sehen. Das Bild der Welt in der Bilderwelt" entstand. Mithilfe von Walter Benjamin schrieb Berger über den durch die allgegenwärtige Werbewelt in den Taumel geratenen Blick auf die Bilder und über die Ausbeutung des weiblichen Körpers durch den männlichen Blick, vor allem für die Reklame.
Wenn Worte nicht mehr halfen, zeichnete er, um hinter das Geheimnis des Bildes zu kommen
Wieder hatte er als Erster um die Ecke geschaut. Lange bevor Walter Benjamin bei uns in Taschenbuchausgaben auf jedem Regal stand, hatte er durch Exilanten wie Max Raphael einen anderen Blick auf die Kunst gelernt. Im Kunstwerk will er den Augenblick in all seinen Bezügen zur Gegenwart, zur Vergangenheit und in all seiner sinnlichen Lebendigkeit erfassen und dies an den Betrachter weitergeben. Als jemand, der sein Wissen nie stolz vor sich hertrug, sondern es im Rucksack unsichtbar versteckte. So war es ihm nie im Weg, aber immer zur Hand. Kunstkritiker, Philosoph, politischer Denker und Künstler, all das war er, aber nie ein Akademiker. Nur das Zeichnen und Malen hatte er auf einer Akademie gelernt und sein Leben lang behalten. Wenn er mit den Worten nicht mehr weiterwusste, zeichnete er, um hinter das Geheimnis eines Bildes zu kommen, was ihn schon einmal in Konflikt mit der Aufsicht bringen konnte. In den letzten Jahren passierte es, dass man ihn in der National Gallery in London, wo er einen Engel von Antonello da Messina abzeichnete, aus dem Haus warf, weil er seine Tasche wegen ihres Gewichts abstellen musste - und nach den Vorschriften nicht durfte.
London war die erste Station seines Lebens gewesen, hier wuchs der am 5. November 1926 Geborene auf, lief mit 16 vom Internat davon, fand Gleichgesinnte und lernte in der Zeit des "Blitz" Zeichnen und Malen. Die National Gallery war wegen der Bedrohung durch deutsche Bomben leergeräumt, aber Myra Hess spielte in den leeren Sälen Bach, um an etwas anderes zu erinnern. "An etwas anderes zu erinnern" - das war einer seines Lebensantriebe: Denn der Augenblick eines jeden Kunstwerks sollte in größter sinnlicher Konkretheit und gedanklicher Dichte an etwas erinnern und zugleich auf etwas verweisen, das uns aus der Zukunft entgegenschaut. Ein Ansatz, den er selbst als marxistisch apostrophierte.
In London war er wegen seiner Schroffheit, die dazu dienen sollte, dialogische Räume zu öffnen, oft aufgefallen. Sein erster Roman "A Painter of our Time" verschwand 1958 nach einem Monat wieder aus den Buchhandlungen, weil man seine politischen Ansichten als zu radikal ansah, das British Council entschuldigte sich bei Henry Moore für einen aufbrausenden Artikel Bergers. Als er 1972 für den Roman "G." den Booker Prize erhielt, spendete er die Hälfte des Preisgeldes an die Black Panther - das Geld stammte von einer Firma, die sich mit dem erst durch Sklavenarbeit lukrativen Rohrzuckerhandel etabliert hatte. Die andere Hälfte verwendete Berger für das mit Jean Mohr verfasste soziologische Erkundungsbuch über Migration, Auswanderung und "Gastarbeiter", wie es damals noch hieß: "Der siebte Mensch".
Ganz Europa wurde so zu seinem Feld. Er zog nach Genf und wenig später hoch in die Berge der Savoyen, wo er die nächsten vierzig Jahre lebte und seine bahnbrechenden Bücher über das Leben der Bauern schrieb - genau in dem Moment, in dem ihre Lebenswelt, die seit der Bronzezeit bestand, von der Industrialisierung erfasst und von der Zivilisation marginalisiert wurde. Sein Nahblick auf die Dinge, sein Merken auf die Arbeit der Hände, seine Solidarität mit allem Kreatürlichen ließen ihn hier schnell Freunde finden. Er half bei der Arbeit, zeichnete abends die Geschichten auf und fand so eine neue Rolle: der Storyteller, der zuhört, der erinnert, der voraussieht und mit seinen Geschichten zu einem "Wir-Erzähler" wird, als den ihn Peter Handke einmal bezeichnete.
Diesem Wir widmete er seine Romane und Erzählungen - den Obdachlosen in Neapel ("King", 1999), den Armen im Gazastreifen, in Mexiko, Indien oder den Favelas Lateinamerikas ("A und X", 2010), denen der Schlaf oft der einzige Schutz ist gegen Hunger, Einsamkeit und Vergessenwerden. Dies waren die Dinge, die er unserer Welt vorwarf, die im Namen eines reibungslosen Funktionierens ihrer Güterakkumulation auf der anderen Seite der Welt nur eine Riesenschuld verursacht, die wir nicht anerkennen wollen.
Wie kann man angesichts einer solchen Situation Hoffnung bewahren? Wie können wir einer Welt wie dieser entgegentreten? In seinen letzten Essays und Büchern kommt John Berger immer wieder darauf zu sprechen, und diese Insistenz war es vor allem, die seine Bücher in den letzten Jahren zu so einer großen Inspiration für die jüngere Generation werden ließ. Einer von ihnen machte nach einer Geschichte aus "Bentos Skizzenbuch" (2013) einen Film, der bei Youtube zu finden ist: "The Swimming Pool in Paris, for John Berger". Berger kannte den Film nicht, und als wir nach dem Essen den Tisch abräumten und ihn im Computer sahen, war er ganz gebannt vor Aufregung. "Wie hat er das gemacht? Wie kam er an meine Stimme?" Tränen vor Glück in seinen Augen.
Er zog nach Paris, jener Stadt, die schon immer zwischen London und Genf lag
Da war seine Frau Beverly, mit der er in den Savoyen gelebt hatte, bereits tot. Gemeinsam hatten sie all die Bücher gemacht, geschrieben, korrigiert, in die Welt geschickt: "Die Herrin jeder Seite", sagte er oft. Danach fand er keine Ruhe mehr in dem Bergdorf. Er zog nach Paris, der Stadt, die immer schon zwischen London und Genf lag. Hier saß er in den letzten Jahren im Garten und wunderte sich, dass das Verhältnis zwischen Sehen und Wissen nie zur Ruhe kommt. Jeden Abend sehen wir den Sonnenuntergang, und jeden Abend wissen wir, dass sich die Erde von der Sonne wegdreht, und doch erklärt das nichts.
Ein letzter Take: Wir sehen, dass er Chaplins Biografie auf dem Tisch hat - auch so ein Waisenkind zwischen den Klassen und Kontinenten, der Tramp, der die Kniffe und Listen kannte, mit denen die Armen eins ums andere Mal entwischen, um ihr Überleben zu fristen. Und der sie alle durch das Lachen befreit. Berger erzählt, wie er Chaplin zwei Jahre vor seinem Tod besuchte und ihm erzählte, dass sie beide in Lambeth in London groß geworden seien - und Berger greift nach dem Buch. Einen Moment wussten wir nicht, sehen wir Chaplin oder Berger, der uns hier eine Lektion erteilt. Mit einem Stocken zwischen den Worten, das den Abstand zwischen den Dingen nicht vorschnell überspringt, sondern den Finger darauflegt, ihn hervorhebt und über ihn reflektiert, bevor die Brücke gefunden wird. Eine Brücke zwischen den Menschen und über die Falten aus Zeit, aus Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, die uns umgeben.
Das große Staunen kann nicht sterben. Es steht unter dem Akzent des Anfangs, nicht des Endes. So leben John Bergers Fragen weiter. Nichts hält sie so sehr am Leben, als dass wir sie weiterbuchstabieren.
Hans Jürgen Balmes, geboren 1958 , ist Programmleiter für Internationale Literatur im S. Fischer Verlag und seit vielen Jahren Bergers Lektor.