Nachruf auf Yona Friedman:Der Stadtneudenker

Portrait of Yona Friedman (architect, sociologist) 1988

Yona Friedman, in seiner Pariser Privatwohnung 1988. Der Architekt hat so gut wie alle großen Themen unserer Zeit in seinen Visionen und Modellen vorausgedacht.

(Foto: Jean Leonard/Opale/Leemage/laif; © VG Bild-Kunst, Bonn 2020)

Ein Utopist wider Willen: Der Architekt Yona Friedman dachte viel über die Zukunft des urbanen Raums nach. Nun ist er im Alter von 96 Jahren gestorben.

Von Joseph Hanimann

Manche nannten ihn etwas boshaft einen Architekten fürs Papier. Die Liste seiner gebauten Projekte ist kurz: eine Schule in der französischen Stadt Angers, ein Museum im indischen Madras, futuristische Gebäude da und dort. Erfinder neuer Stadtmodelle sind aber nicht in Werkkatalogen erfassbar. Yona Friedmans Bedeutung misst sich in der Gesamtentwicklung der Architektur der letzten fünfzig Jahre, namentlich bei den Japanern wie Kenzo Tange oder Arata Isozaki, die sich früh von ihm beeinflussen ließen.

Der 1923 in Budapest geborene ungarisch-jüdische Intellektuellensohn konnte unter dem Naziregime die Architekturvorlesungen nur als nicht eingeschriebener Hörer besuchen. Zwanzigjährig schloss er sich dem Widerstand an. Die ab 1946 in Haifa nachgeholte Architektenausbildung hinterließ bei diesem eigenwilligen Denker wenig Spuren. Seine Vorstellungen eines weitgehend von den Bewohnern konzipierten Lebensraums ohne architektonisches Gütesiegel fanden wiederum bei der Zunft wenig Anklang. Beim Wohnungsbau für die aus aller Welt eintreffenden Leute war im jungen Staat Israel für ihn kaum Platz.

Beim Internationalen Kongress für moderne Architektur (CIAM) 1956 in Dubrovnik suchte er seine Ideen einer "mobilen Architektur" und einer als Großstruktur konzipierten "Ville spatiale" weiter zu verbreiten. Kontakte wurden geknüpft mit Le Corbusier und Jean Prouvé. Erste Publikationen brachten ihn auch mit dem Deutschen Frei Otto oder dem Niederländer Gerrit Rietveld zusammen. 1957 übersiedelte Friedman nach Paris, schloss sich dort mit anderen zu einer Studiengruppe für eine "Architecture mobile" zusammen und publizierte ein Manifest zu diesem Thema. Die Stadt wird darin beschrieben als ein flexibles, sich ständig veränderndes Perpetuum mobile.

So gut wie alle großen Themen unserer Zeit hat Yona Friedman in seinen Visionen und Modellen vorausgedacht, von der Mitplanung durch die Benutzer, über Maßnahmen gegen die urbane Zersiedelung, bis zu den ökologischen Aspekten. Sein Konzept einer Spacial City versteht die Stadt der Zukunft als eine mobile Überstruktur über den Dächern der bestehenden Bauten, die von oben und unten mit den nötigen Funktionen versorgt und so möglichst in ihren gegenwärtigen Grenzen zusammengehalten werden. Zahlreich sind die Skizzen, Pläne, Modelle und Collagen davon, die Yona Friedman berühmt machten, ihm aber auch zum Verhängnis wurden. Durch ihren ästhetischen Reiz wurden sie ab den Neunzigern zu Kultobjekten, hingen in Ausstellungen und gingen in Museumssammlungen ein. Ein Mann, dem es vorwiegend um Lösungen für konkrete Probleme und humane Anliegen ging, mutierte zum schicken Utopisten für trendiges Design.

Eine Modeerscheinung wollte er aber so wenig werden wie zuvor eine Symbolfigur für Hippie-Individualismus oder Ökobewegung. Ganz unbeteiligt an seinem Ruf war er aber nicht. Sein ausgeprägter Sinn für Ästhetik war unbestreitbar. Er war zugleich die Antwort auf den von manchen gehegten Verdacht, dieser Mann wolle unsere Städte in abstruse Technostrukturen verwandeln. Seine Wohnung, eine Wunderkammer mit ausgesuchten Objekten, verzierten Wänden, zeigte Friedman als Humanisten und Ästheten.

Wie sehr es ihm bei seiner Arbeit auf allgemeine Brauchbarkeit ankam, zeigt etwa "Space Chains". Das System aus ineinandergefügten Metallringen, das Friedmans Stadtvision symbolisiert und vor drei Jahren noch in der Londoner Serpentine Gallery ausgestellt war, geisterte seit den Fünfzigern durch seinen Kopf. Es sollte der fernen Zukunft wie der unmittelbaren Notsituation dienen.

Was Yona Friedman über seine spärlichen Realisierungen an Wirkung nicht erreichen konnte, machte er durch Vorträge, Publikationen und Meisterkurse wett. Seine Wettbewerbseinreichungen wie 1970 für das Pariser Centre Pompidou wanderten ins Lager der unausgeführten Visionen. Dort bezeugen sie für die Zukunft, wie weit man zum jeweiligen Zeitpunkt zu denken vermochte. Auch am Abstand zwischen Avantgarde und Bauroutine lässt sich die architektonische Reife der Epochen messen.

Yona Friedmans Überzeugung war es, dass die Zeit der großen architektonischen Würfe vorbei sei und fortan Strukturmodelle und Denkmuster gebraucht würden. Dass er damit schlecht in seine Zeit passte und zum Außenseiter wurde, nahm er bis zu seinem Tod humorvoll in Kauf. Nach 96 Jahren auf der Erde sei Yona aufgestiegen, um seine Spacial City im Himmel zu bauen, lautete versöhnlich die Todesnachricht.

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