Nachruf auf Robert Gernhardt:Ein Punkt im Raum, ein Nichts im Sein

Keinen Künstler haben die Deutschen so geliebt, und keiner liebte sein Publikum so wie er: Zum Tod des Dichters und Malers Robert Gernhardt.

Thomas Steinfeld

Einer der letzten Ausflüge Robert Gernhardts galt den Werken des Renaissancemalers Adam Elsheimer im Frankfurter Städel. Er war schon sehr geschwächt, musste sich häufig setzen und eilte am Schluss von Bild zu Bild, als wäre er in Sorge, nicht mehr die ganze Ausstellung sehen zu können. Denn dieser Künstler macht es dem Betrachter nicht leicht: Klein, viel zu klein sind die meisten seiner Gemälde, so klein, dass man ihnen bis auf einen Dezimeter nahe rücken muss, um sie ganz und genau in den Blick zu bekommen: den Reichtum der Figuren, die Eigenart der Gesichter, die Pracht von Gelb und Rot. Anerkennend stand Robert Gernhardt vor diesen Bildern. Er bewunderte sie nicht, sondern sah sie fachlich, als ein um fast fünfhundert Jahre in die Zukunft versetzter Kollege: "So ein kleiner Raum", sagte er schließlich, "und so große Bewegungen". Dann lachte er, aber das Lachen klang nicht mehr heiter und frei wie früher, sondern es war leise und heiser geworden. Danach wurde es noch leiser. Jetzt, am gestrigen Freitag ist Robert Gernhardt im Alter von 68 Jahren gestorben.

Nachruf auf Robert Gernhardt: Die Basis sprach zum Überbau: 'Du bist ja heut' schon wieder blau!'/ Da sprach der Überbau zur Basis: 'Was is?'

Die Basis sprach zum Überbau: 'Du bist ja heut' schon wieder blau!'/ Da sprach der Überbau zur Basis: 'Was is?'

(Foto: Foto: dpa)

So klein der Raum, so groß die Bewegungen - Robert Gernhardts Kunst ist selbst von dieser Art. Von ihm gibt es keinen Roman, kein episches Gedicht, kein Gemälde in großem Format. Seine Kunst ist an überschaubare Maße gebunden. In ihrer Mitte steht meist keine große Geschichte, sondern ein plötzliches Innehalten, und dann sieht man die Dinge, wie sie gerade sind. Die meisten stehen ein wenig schräg, wie abgebrochen und überrascht, manchmal auch erschrocken, und aus dieser Lage ergibt sich oft eine Pointe. Es schwankt und fällt die Kippfigur, deren ebenso komisches wie tragisches Potenzial Robert Gernhardt stets mit einem nur kurzen Blick austarieren konnte, mit einem Blick, der ebenso nüchtern und unerbittlich wie aufmerksam und zart war. Immer wieder machte er sich zum imaginären Gefährten der Niederlage und des Ungeschicks, voller Sympathie für deren Opfer, aber scharfsinnig und deswegen nie mitfühlend genug, um die dramatischen, die bildenden, die erzählerischen Möglichkeiten des Scheiterns nicht ausschöpfen zu wollen.

Ein Punkt im Raum, ein Nichts im Sein

Ja, selbstverständlich liebte Robert Gernhardt die Pointe. Und was wäre dagegen zu sagen? Dass eine Pointe den Sinn eines künstlerischen Werkes abschließt, während dieser doch offen, frei und unerschöpflich zu sein habe? Wie albern. Das Verrutschen des Sinns, der plötzliche Umschlag in den Unsinn, die Erkenntnis der kleinen und großen Unangemessenheiten des Lebens waren bei Robert Gernhardt Akte von schierer Intelligenz, von tiefem Verstehen, ein Spiel mit dem Verhängnisvollen, Unabwendbaren. Und weil er so viel und so genau verstand, wurde er nicht nur zum Theoretiker des literarischen Humors, sondern zum Kritiker der Pose, der Überheblichkeit und der poetischen Hochstapelei. Im Übrigen wusste Robert Gernhardt, dass alle Pointen irgendwann aufhören müssen: In den vergangenen Jahren, seit dem Zyklus "Herz in Not" (1997), blieben sie immer häufiger aus, wichen Einsichten, die man fatal nennen müsste, wären sie nicht gleichzeitig so ganz ohne Bosheit, nur klug und rücksichtsvoll gewesen. Und so starb Robert Gernhardt auch: Lange schon litt er an einer unheilbaren Krankheit, lange kämpfte er dagegen, und als ihm zum Schluss keine Medizin mehr helfen konnte, nahm er es hin und arbeitete weiter, immer schwächer, immer müder, aber bis zum Schluss mit einem völlig klaren Blick dafür, was noch zu tun war und was noch getan werden konnte.

Am Wunsch, einen Augenblick zu sistieren, ihn festzuhalten und ihn dann in seiner ganzen Schönheit und Vergeblichkeit zu entfalten, muss sich die doppelte Begabung Robert Gernhardts entwickelt haben: Er, der eigentlich aus Reval stammt und in Göttingen aufgewachsen war, hatte in Stuttgart und Berlin die Mal- wie die Dichtkunst studiert. Und auch wenn der Maler zumindest im öffentlichen Bewusstsein meistens als Zeichner auftrat, so sind doch die Ölgemälde aus den achtziger Jahren, wie sie der Band "Innen und Außen" (1988) dokumentiert, oder die Kreidearbeiten aus jüngster Zeit von großer Schönheit und handwerklich vollendet: Das Stillleben war sein bevorzugtes Genre, tief gestaffelte, harmonisch aufgebaute Landschaften, Tiere, darunter viele tote, scheinbar belanglose Dinge und Gerätschaften aus dem praktischen Leben. Es ist eine geordnete, eine zu sich gekommene, innige Welt, die der Maler hier abbildete. Aber sie ist nicht idyllisch. In den gebrochenen Farben seiner Landschaften, in der Reduktion auf einen deutlich definierten Ausschnitt, in der Nähe vieler Kreidezeichnungen zu Motiven des memento mori, darin, dass in seinen Porträts ein Zug zur Karikatur nicht zu übersehen war, in all diesen Brechungen wurde offensichtlich, dass die beherrschte Form wesentlich unangenehmeren Verhältnissen abgerungen war - dass hier Geist, Ordnung und Technik triumphierten, weil sie die Unbill für eine Weile bannen, weil sie der Ergriffenheit eine Form geben und gerade deshalb zuweilen eine ganz natürliche Verbindung zum Scherz eingehen.

Robert Gernhardts Werk entwickelte sich außerhalb des großen Kunst- und Kulturbetriebs. Einen Rand will man die Sphäre, in der er berühmt, vom Enthusiasten zum Virtuosen und dann zu einem großen Künstler wurde, nicht nennen. Ein großes Nebenzentrum war es, und es war besiedelt von Wesen wie dem Nilpferd Schnuffi, dem Meister der absurden Dialoge, später auch vom Schwein, das auf einem Floß in die Unendlichkeit trieb, und der Ratte, die so wenig Glück als Kellner hatte (in "Wörtersee", 1981). Der Witz war hier zu Hause, gerne der absurde, die Satire, auch die kluge, wohlabgewogene Bosheit. Dies war die Nebenwelt der Zeitschrift Pardon in den sechziger und siebziger Jahren, der Zeitschrift Titanic von 1979 bis heute, und dazwischen wurden die Drehbücher für vier Filme von Otto Waalkes geschrieben. Aus diesem Milieu wuchs Robert Gernhardt hinaus, in die freie Kunst und in die Mitte der Gesellschaft hinein. Und er blieb doch ein volkstümlicher Dichter. Kein Künstler wird in Deutschland so geliebt, wie Robert Gernhardt es wurde.

Die Liebe beruhte auf Gegenseitigkeit. Keinen Künstler gibt es in Deutschland, der sein Publikum so liebte wie Robert Gernhardt, der ihm so freundlich zuschaute, es ermunterte, neugierig und freudig selbst die schlichtesten Einwürfe auffing, mit ihnen weiterspielte und sie dann, wenn sie klug, knapp und prächtig geworden waren, an seine Zuhörer zurückgab. Er konnte sich darüber freuen, wenn er Formulierungen, Verse, Reime, die er gefunden hatte, woanders wiedersah, in der Werbung oder in einer Fernsehsendung. Viele haben bei ihm schreiben gelernt, darunter ein paar Dichter, vor allem aber Prosaisten, Journalisten und gewöhnliche Briefverfasser. Seine letzte Dienstreise unternahm er Anfang Mai nach Warwick in Großbritannien, um eine Woche lang an der dortigen Universität zu lehren. Als er heimkam, erzählte er stolz, es sei dort gelungen, fünfzehn seiner Gedichte ins Englische zu übersetzen, und die Studenten hätten heftig lachen müssen - man stelle sich vor: Briten, deutsche Verse, freudiges Lachen.

Begonnen hatte Robert Gernhardt in einer Künstlergruppe, in der "Neuen Frankfurter Schule", deren Mitglieder sich der alten "Frankfurter Schule" nicht nur durch den Standort, sondern auch durch die Verbindung von Bildung und Kritik verbunden wussten. Sie alle, Friedrich Karl Waechter, F.W.Bernstein, Bernd Eilert, Eckhard Henscheid, Pit Knorr, Chlodwig Poth, Hans Traxler, besaßen (und einige besitzen noch) mehr als ein künstlerisches Talent. Sie waren Dichter und Maler , und sie waren es in einem bemerkenswert konservativen Sinn: Sie hatten sich von einer längst in den Gemeinsinn, ins Klischee und in die Routine eingegangenen ästhetischen Moderne verabschiedet und erfanden die Mittel der Kunst neu: die historischen Genres der Lyrik, Versfuß und Reim, die Gegenständlichkeit in der Malerei.

Der von vornherein, von der ganzen Gruppe, aber auch von jedem einzelnen ihrer Mitglieder erhobene Anspruch, bald zu den Klassikern zu zählen, wenn nicht schon längst dazuzugehören, war daher kein Scherz: Er enthielt etwas ebenso Subversives wie Sonett und Trochäus: Wenn radikale Offenheit, wenn Widerspruch und Provokation zur allgegenwärtigen ästhetischen Konvention geworden sind, dann muss die Rückkehr zur strengen Form Kritik sein - und sich souverän und heiter über die Pedanterie und Unfreiheit der Moderne erheben. Die große Anstrengung Robert Gernhardts, dem Humor, zumal dem deutschen, einen eigenen, herausgehobenen Platz in den hohen Künsten zu verschaffen - wie zuletzt in "Hell und Schnell" (2004), der gewaltigen Anthologie zum komischen deutschen Gedicht - gründet in diesem, allzu begründeten Interesse an einer Öffnung der ästhetischen Moderne zur künstlerischen Tradition.

Dass Robert Gernhardt die Hälfte des Jahres gewöhnlich in Italien verbrachte, geht auch auf die Liebe zur Kunst in ihrer historischen Form zurück. Der Hügel gegenüber von Montaio, seinem Wohnhort, ist der klassische Hügel der Toskana (trotz, nein, auch wegen der Lastwagen, die man auf der Straße am Hang zum nahe gelegenen Steinbruch donnern hörte). Den Hang hinauf liegt Gaiole, das Tal hinunter Arezzo, und in jeder Kirche gibt es einen alten Meister und an jeder Bruchsteinmauer ein klassisches Muster zu betrachten. Und dann: der Ölbaum, die Zypresse, die Katzen, denen Robert Gernhardt Freitisch gewährte, Bella, der Findehund von der Küste der Maremma, der mit Antilopensprüngen über das Gras des Olivenhains setzt. "Die Toskana ist voll von Fremden", heißt es in einem Gedicht aus dem Band "Im Glück und anderswo" (2002), "Wegen der Bilder, nicht wegen Tieren. / Doch gehen Bilder manchmal am Arsch vorbei / und die Hunde voll an die Nieren." Die Renaissance, die Wiederkehr des freien Menschen, schien hier keine Epoche mehr zu sein. Jeden Morgen begann sie auf der Terrasse neu, mit der Wiederkehr des freien Tiers.

In der Frankfurter Ausstellung der Werke Adam Elsheimers verweilte Robert Gernhardt nur an einem Bild länger als bloß ein paar Augenblicke: Es schildert die Flucht aus Ägypten. Über der Heiligen Familie spannt sich ein dunkelblauer Nachthimmel, der die ganze obere Hälfte des Gemäldes einnimmt. Tausende Sterne sieht man darin blinken. "Dies ist", sagte Robert Gernhardt, "die erste einigermaßen exakte Darstellung der Milchstraße in der Kunst." Er sagte es mit einer Gewissheit, als sei er schon unter unendlich vielen Sonnensystemen vorübergezogen: "Ein Punkt im Raum, ein Nichts im Sein / War da je Strom, je Floß, je Schwein". Aber dieser Vers tröstet nicht, er vergrößert nur den Schmerz: Wir werden Robert Gernhardt sehr vermissen.

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