Nachruf auf Gert Voss:Perfekter Techniker seiner Kunst

Nachruf auf Gert Voss: Gert Voss im Jahr 2007 im Deutschen Theater in Berlin

Gert Voss im Jahr 2007 im Deutschen Theater in Berlin

(Foto: Imago Stock&People)

Er spielte Theaterkönige und war selbst ein König des Theaters. Gert Voss starb am Sonntag nach kurzer schwerer Krankheit im Alter von 72 Jahren in Wien. Seine natürliche Präsenz wird den großen deutschsprachigen Bühnen fehlen.

Von Helmut Schödel

Das Theater, einst vielleicht eine moralische, nie aber eine demokratische Anstalt, hat noch einen Zug ins Feudalistische. Da gibt es große Herrscher und daneben jede Menge Fußvolk. Die Kronen und Zepter allerdings werden nicht vererbt, und sie fallen auch nicht aus dem Bühnenhimmel. Der Guckkasten ist ein ödes, dunkles Loch - bis so eine Art Urknall entsteht, von dem man bekanntlich nicht genau weiß, wie er zustande kommt, und dann Licht wird, der Funke zündet oder auch wieder verlischt.

Diejenigen, die diese Zauberei beherrschen und das ganze Theater erst ermöglichen, sind die wahren Könige und Königinnen der Bühnen. So ein Theaterkönig war der große Bernhard Minetti, ein Virtuose des Monomanen. Und ein ganz anderer, aber ebenso ein ganz großer Theaterkönig, in gewisser Weise sogar Minettis Antipode, war Gert Voss, einer der bedeutendsten Schauspieler europäischen Theaters.

Voss stilisierte sich nicht zum Mythos, er war nebenbei auch ein perfekter Techniker seiner Kunst, ein Perfektionist und ein höchst reflektierter Künstler, der das Allerwichtigste schaffte: Sein Erscheinen im Theater spielte deshalb eine so bleibend große Rolle in unserer Wahrnehmung, weil er nicht Rollen spielte, sondern das Komplizierte einer Existenz, die Herausforderung zu leben. Und das erschöpft sich nie simpel in der sozialen oder psychologischen Erklärbarkeit.

Seine Höhenflüge entstanden, weil sein Spiel stets das hatte, was man früher "Tiefe" nannte. In einem Interview sagte Voss, bezogen auf den Umgang mit Shakespeare: "Wenn man das Herz einer Figur trifft, ist es, als träfe man ein Tier." Doch auch die begeisterten und journalistisch brillanten Beschreibungsversuche seiner Schauspielkunst vermochten den Kern des Ganzen nie vollkommen zu vermitteln. In solchen Momenten der Überlegenheit, wie sie Voss erreichte, beweist sich immer noch großes Theater.

Man spürte seine Anwesenheit, die man vielleicht Aura nennt

Voss war keiner der Senkrechtstarter, wie wir sie heute kennen. Sein Weg nach oben führte über die alte "Ochsentour" durch die Provinz. Als Anfänger trat er zunächst in Konstanz und Braunschweig auf, bevor er in das Peymann-Ensemble am Württembergischen Staatstheater in Stuttgart eintrat und sich in den folgenden Jahren die ganze Theaterwelt eroberte: die Königskinder und die legendären Mörder, die Lears und auch die bürgerlichen Schmerzensmänner, auch die Clowns à la Beckett. Bis sein eigener Name zum Titel eines Stücks gehörte. Das war Thomas Bernhards "Ritter, Dene, Voss".

Gert Voss wurde 1941 in Shanghai geboren, wo sein Vater als Außenhandelskaufmann tätig war. 1947 kehrte die Familie nach Deutschland zurück. Er erlebte schon früh die dunkle Seite des Lebens, sah, wie in Shanghai Säuglinge von ihren Müttern auf die Bahngleise gelegt wurden, weil sie ihre Kinder nicht ernähren konnten.

Davon erzählt er in seiner Autobiografie "Ich bin kein Papagei". Diesem Buch ist ein chinesisches Motto vorangestellt: "Jeder Tag ist eine Reise, und die Reise an sich ist das Zuhause." So reiste er, entdeckt von Claus Peymann, auch durch die großen Theater. In Peymanns Bochumer Zeit hatte er wohl seinen ersten durchschlagenden Erfolg in Kleists "Herrmannsschlacht" als Germanenrecke mit Kirsten Dene als Thusnelda an der Seite.

Voss musste eigentlich gar nichts sagen, schon gar nicht mit Händen und Füßen spielen, man spürte seine Anwesenheit, die man vielleicht Aura nennt. Er hatte noch die Begabung zur Präsenz, die heute in vorbildlosen Zeiten ganz allgemein fehlt. Was ihm völlig fremd war, aber mittlerweile mehr und mehr an die Stelle von Präsenz tritt, ist diese Betonung von Befindlichkeiten, die ihm und in seinem Spiel vollkommen fehlten.

Gesichtszüge, in denen sich Leben spiegelte

Voss hatte noch die Fähigkeit zu einem sogenannten Charakterdarsteller, weil er auch über diesen herrlichen Charakterkopf verfügte - und über ein Gesicht. Kein Modellgesicht für ein Close-up, sondern Züge, in denen sich Leben spiegelte.

Auch das Leben der Anderen, in das er sich vertiefte. Nicht um Shakespeares "Richard III." zu dämonisieren, sondern um sich dem Desaster zu öffnen, es in seiner ganzen Kompliziertheit erfahrbar zu machen. Mit Schauspielern wie Gert Voss konnte man auch im Parkettsessel Erfahrungen fürs Leben machen. Er zog seine Zuschauer in diese Heiß-Kalt-Erlebnisse, im Hin und Her zwischen tragischen und komischen Situationen, die zu keiner beruhigenden Conclusio führten.

Als Piefke am Wiener Burgtheater unter allem Niveau bekämpft

Unter Luc Bondys Regie zeigte er am Wiener Burgtheater des alten König Lears Reise in den Wahn. Er spielte "König Ich", mit einem Vogelnest als Perücke, dem nichts als Verlassenheit und Schmerz blieb, halb nackt war er nun unter seinem ehemaligen Königsmantel. Andererseits führte er uns in Schillers "Wallenstein" lässig in die Hinterzimmer der Macht, ein cooler Typ der souverän mit seiner Position spielte.

Es geht viel verloren mit den großen Alten des Theaters. Denn: Voss konnte auch noch richtig sprechen. Er verfügte auch über die alte Sprechkultur, die im heutigen Ad Spectatores verloren geht. Und doch wurde er, als er damals mit Claus Peymann an das Wiener Burgtheater kam und man in Österreichs Hauptstadt einen Überfall der Piefkes befürchtete, unter allem Niveau bekämpft.

Claus Peymann war ein beliebtes Hassobjekt, und auch Voss bekam "die Scheiße im Schachterl". Man schickte ihm tatsächlich Exkremente, nett verpackt. Seine Zweifel an Wien, wo man selbst in der Umarmung untergeht, kamen in den letzten Jahren wieder auf, weshalb er sich für Auftritte in Berlin entschied, einer Stadt, in der er eine gewisse Intelligenz vermutete, obwohl er da auch in Österreich längst ein Star war.

Er reiste weiter durch sein einfach kompliziertes Leben, ein Mann der alten Schule, dem Lärm der Neutöner weit überlegen, obwohl er nie ein Gestriger war und nicht umsonst am Ende von Bernhards Stück, in dessen Titel er vorkam, die Gemälde der Ahnen mit den Gesichtern zur Wand drehte. Voss war nicht nur ein Klassiker- Interpret, sondern brachte auch die Zeitgenossen zu Ansehen, spielte etwa in Stücken von George Tabori, Peter Handke oder Peter Turrini.

Es bleiben seine Bettler und Könige

Er war eben ein großer Theaterkönig, auch mit einer Neigung zum Kino, der schon als Junge auf seiner langen Überfahrt auf einem US-Truppentransporter bis nach Bremerhaven mit den Matrosen Filme schaute. Und so war er auch in Filmen zu sehen wie "Hohn der Angst", "Radetzkymarsch" und "Balzac".

Es gehört zur Natur von Nachrufen, dass sie schnell verhallen. Mit ihnen beginnt das sture Vergessen. Filme und Bücher bleiben verfügbar. Das Theater ist live und vergänglich. Die abgespielte Produktion, der geniale Auftritt, sind für immer dahin. So bleibt, was wirklich prägend war.

Dazu gehört bei Voss nicht, dass ihn 1995 die Times zum besten Schauspieler Europas kürte, oder Preise und Ehrenzeichen. Es bleiben seine Bettler und Könige, seine Clowns und Bürger auch deshalb im Gedächtnis, weil wir wohl immer Grund genug haben werden, uns an sie zu erinnern. Und mit ihnen an einen Titan der Schauspielkunst, der auf die Frage "Sie sollen wieder geboren werden. Wer oder was möchten Sie sein?" zu Recht antworten konnte: "Derselbe, der ich bin."

In Wien war er auch bereits zum Kammerschauspieler ernannt. Gert Voss hatte den Gertrud-Eysoldt-Ring erhalten, die begehrte Kainz-Medaille, den Fritz-Kortner-Preis, er war Träger des Bundesverdienstkreuzes I. Klasse, des Goldenen Ehrenzeichens der Stadt Wien und des Goldenen Verdienstzeichens der Stadt Salzburg. Er war auch der Jedermann bei den Salzburger Festspielen.

Wahrscheinlich hängt sein Porträt sowieso schon im Burgtheater-Foyer, und die Ansprachen werden alle Konflikte vergessen machen wollen. Alles, was ihm wohl hoffentlich erspart bleibt, ist das Ehrengrab am Zentralfriedhof.

Gert Voss starb am vergangenen Sonntag nach kurzer, schwerer Krankheit im Alter von 72 Jahren in Wien.

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