Das Theater, einst vielleicht eine moralische, nie aber eine demokratische Anstalt, hat noch einen Zug ins Feudalistische. Da gibt es große Herrscher und daneben jede Menge Fußvolk. Die Kronen und Zepter allerdings werden nicht vererbt, und sie fallen auch nicht aus dem Bühnenhimmel. Der Guckkasten ist ein ödes, dunkles Loch - bis so eine Art Urknall entsteht, von dem man bekanntlich nicht genau weiß, wie er zustande kommt, und dann Licht wird, der Funke zündet oder auch wieder verlischt.
Diejenigen, die diese Zauberei beherrschen und das ganze Theater erst ermöglichen, sind die wahren Könige und Königinnen der Bühnen. So ein Theaterkönig war der große Bernhard Minetti, ein Virtuose des Monomanen. Und ein ganz anderer, aber ebenso ein ganz großer Theaterkönig, in gewisser Weise sogar Minettis Antipode, war Gert Voss, einer der bedeutendsten Schauspieler europäischen Theaters.
Voss stilisierte sich nicht zum Mythos, er war nebenbei auch ein perfekter Techniker seiner Kunst, ein Perfektionist und ein höchst reflektierter Künstler, der das Allerwichtigste schaffte: Sein Erscheinen im Theater spielte deshalb eine so bleibend große Rolle in unserer Wahrnehmung, weil er nicht Rollen spielte, sondern das Komplizierte einer Existenz, die Herausforderung zu leben. Und das erschöpft sich nie simpel in der sozialen oder psychologischen Erklärbarkeit.
Seine Höhenflüge entstanden, weil sein Spiel stets das hatte, was man früher "Tiefe" nannte. In einem Interview sagte Voss, bezogen auf den Umgang mit Shakespeare: "Wenn man das Herz einer Figur trifft, ist es, als träfe man ein Tier." Doch auch die begeisterten und journalistisch brillanten Beschreibungsversuche seiner Schauspielkunst vermochten den Kern des Ganzen nie vollkommen zu vermitteln. In solchen Momenten der Überlegenheit, wie sie Voss erreichte, beweist sich immer noch großes Theater.
Man spürte seine Anwesenheit, die man vielleicht Aura nennt
Voss war keiner der Senkrechtstarter, wie wir sie heute kennen. Sein Weg nach oben führte über die alte "Ochsentour" durch die Provinz. Als Anfänger trat er zunächst in Konstanz und Braunschweig auf, bevor er in das Peymann-Ensemble am Württembergischen Staatstheater in Stuttgart eintrat und sich in den folgenden Jahren die ganze Theaterwelt eroberte: die Königskinder und die legendären Mörder, die Lears und auch die bürgerlichen Schmerzensmänner, auch die Clowns à la Beckett. Bis sein eigener Name zum Titel eines Stücks gehörte. Das war Thomas Bernhards "Ritter, Dene, Voss".
Gert Voss wurde 1941 in Shanghai geboren, wo sein Vater als Außenhandelskaufmann tätig war. 1947 kehrte die Familie nach Deutschland zurück. Er erlebte schon früh die dunkle Seite des Lebens, sah, wie in Shanghai Säuglinge von ihren Müttern auf die Bahngleise gelegt wurden, weil sie ihre Kinder nicht ernähren konnten.
Davon erzählt er in seiner Autobiografie "Ich bin kein Papagei". Diesem Buch ist ein chinesisches Motto vorangestellt: "Jeder Tag ist eine Reise, und die Reise an sich ist das Zuhause." So reiste er, entdeckt von Claus Peymann, auch durch die großen Theater. In Peymanns Bochumer Zeit hatte er wohl seinen ersten durchschlagenden Erfolg in Kleists "Herrmannsschlacht" als Germanenrecke mit Kirsten Dene als Thusnelda an der Seite.
Voss musste eigentlich gar nichts sagen, schon gar nicht mit Händen und Füßen spielen, man spürte seine Anwesenheit, die man vielleicht Aura nennt. Er hatte noch die Begabung zur Präsenz, die heute in vorbildlosen Zeiten ganz allgemein fehlt. Was ihm völlig fremd war, aber mittlerweile mehr und mehr an die Stelle von Präsenz tritt, ist diese Betonung von Befindlichkeiten, die ihm und in seinem Spiel vollkommen fehlten.
Gesichtszüge, in denen sich Leben spiegelte
Voss hatte noch die Fähigkeit zu einem sogenannten Charakterdarsteller, weil er auch über diesen herrlichen Charakterkopf verfügte - und über ein Gesicht. Kein Modellgesicht für ein Close-up, sondern Züge, in denen sich Leben spiegelte.
Auch das Leben der Anderen, in das er sich vertiefte. Nicht um Shakespeares "Richard III." zu dämonisieren, sondern um sich dem Desaster zu öffnen, es in seiner ganzen Kompliziertheit erfahrbar zu machen. Mit Schauspielern wie Gert Voss konnte man auch im Parkettsessel Erfahrungen fürs Leben machen. Er zog seine Zuschauer in diese Heiß-Kalt-Erlebnisse, im Hin und Her zwischen tragischen und komischen Situationen, die zu keiner beruhigenden Conclusio führten.