Nachruf auf Frank Günther:Hamlet im Popcorn-Kino

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Nach einem Leben in der „Shakespeare-Folterkammer“ ist der Philologe und Übersetzer Frank Günther, geboren 1947 in Freiburg, am 15. Oktober in Ulm gestorben. (Foto: imago/Rudolf Gigler)

Der Übersetzer Frank Günther ist gestorben. Seine Sprache und seine Nachworte haben Shakespeares Dramen den Weg auf die Bühnen von heute gewiesen

Von Lothar Müller

Hamlet erklärt wieder einmal etwas. Diesmal, wie er Rosenkranz und Güldenstern in den Tod schickte. "Rosenkranz und Güldenstern gehn drauf," resümiert Horatio. Darauf Hamlet: "Na Mensch, sie buhlten ja um diesen Auftrag." Der selbst gestellte Auftrag des Übersetzers Frank Günther war, so scheint es auf den ersten Blick, die Dramen Shakespeares näher an die Gegenwart heranzuholen. Er hatte aber Vertrackteres im Sinn. Als 2016 sein Buch "Unser Shakespeare" erschien, klang der Obertitel nach resoluter Aktualisierung. Der Untertitel aber lautete: "Einblicke in Shakespeares fremd-verwandte Zeiten". Günthers Ziel war, Shakespeare für das heutige Theater neu zu erschließen, ohne ihm die Fremdheit zu nehmen. Am Ende seines Buches stand das Bekenntnis, dass ihm die Person Shakespeare immer ungreifbarer wurde, je länger er seine Werke übersetzte.

1947 in Freiburg im Breisgau geboren, hatte Günther damit in den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts begonnen. Da hatte er schon viel Theaterluft eingesogen, als Regieassistent und Regisseur. Er hatte auch studiert, Anglistik, Germanistik und Theatergeschichte, in Mainz, unweit von Wiesbaden, wo er aufgewachsen war, und in Bochum. Die Philologie blieb seine Begleiterin, die Bühne seine Richtschnur. Theatertauglich musste sein Shakespeare sein, gut sprechbar. Das Deutsch, in das er ihn übertrug, war aber kein pures Gegenwartsdeutsch. Es war, wie Shakespeares Dramen selbst, ein Sprachmix, Hexentrunk, Quodlibet der rhetorischen Register. Der Blankvers hatte darin ebenso sein Recht wie die aktuelle Interjektion. "Hau endlich ab! Lass mich in Ruh! Los, geh!" sagt im "Sommernachtsraum" Demetrius zu Helena. Dann tritt er ab. Und Helena trifft auf Lysander: "Hoppla! Lysander hier auf kühlem Grunde? Tot - oder schlafend? Ich seh keine Wunde." Nie tanzt der Reimvirtuose Günther selbstvergessen vor sich hin, immer bleibt er auf dem mit Hilfe der Philologie hochgespannten Textseil. Müsste man sein Verdienst in einem Satz zusammenfassen, er könnte lauten: Nirgends wird das Deutsch seiner Shakespeare-Übertragungen gesprochen, überall im deutschen Sprachraum ist es verständlich.

Nicht zu ahnen war, dass er am Ende den ganzen Shakespeare übersetzt hatte

Im Anhang zum "Sommernachtstraum", im Blick auf die Sprachkomik der Handwerker im Stück, hat Günther das Motto für sein Gesamtunternehmen Friederike Kempner in den Mund gelegt, dem "Genie der unfreiwilligen Komik": "Willst gelangen du zum Ziele, / Wohlverdienten Preis gewinnen, / Muss der Schweiß herunterrinnen / Von der Decke bis zur Diele!" Fleiß mag das Zentrum im selbstironisch abgefederten Handwerkerethos dieses Übersetzers gewesen sein. Er hatte aber ein Gegengewicht, die Sprachlust. Sie trug dazu bei, dass er, was er zu Beginn selbst nicht ahnte, am Ende den gesamten Shakespeares übersetzt hatte.

Man lese im letzten Band, dem 2017 erschienenen "Perikles, Fürst von Tyrus", den "Stoßseufzer des ratlosen Übersetzers in der Shakespeare-Folterkammer oder Großes Popcorn-Kino oder Schlag nach bei Goethe". Dieser Stoßseufzer ist eine der schönsten Visitenkarten, die Frank Günther im Laufe seine Arbeit gezückt hat. Es gibt viele solcher Visitenkarten. Auf allen steht "Aus der Übersetzerwerkstatt", man findet sie in jedem Einzelband, sie sind den reichen Anmerkungsteilen vorangestellt. In der Summe ergeben diese Mini-Essays ein wunderbares Shakespeare-Kompendium. Es enthält den Vorschlag, den Kosmos der Dramen als eine große Selbstreflexion des Theaters zu lesen. "Hamlet" etwa wird zur Tragödie des Laienschauspielers, Richard III. zum Marionettenspieler und "Conferencier des Grauens", der dem Publikum zuzwinkert. Und als ungreifbare Hintergrundfigur geistert der Schauspieler Shakespeare durch den fremd-verwandten Kosmos.

Am vergangenen Donnerstag ist Frank Günther im Alter von 73 Jahren in Ulm gestorben.

© SZ vom 19.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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