Nachruf auf ein Idol:Grandezza hat Zeit

Nachruf auf ein Idol: Oberflächen zerkratzen, Eingänge schaffen: Michel Piccoli (hier eine Aufnahme aus dem Jahr 1976 in Cannes) spielte mit irrsinnigem Timing.

Oberflächen zerkratzen, Eingänge schaffen: Michel Piccoli (hier eine Aufnahme aus dem Jahr 1976 in Cannes) spielte mit irrsinnigem Timing.

(Foto: AFP)

Eine Verneigung vor Michel Piccoli, dem Filmkünstler, der so souverän war - und so kindlich. Im Paris der 50er-Jahre wurde er Schauspieler. Von dieser Stadt und ihrer Musik hatte er sein einzigartiges Gespür für Phrasierungen.

Gastbeitrag von Matthias Brandt und Christian Petzold

Ein Mann fährt zu seiner Geliebten. Er ist Bürgermeister in einer kleinen Stadt. Er hat eine kränkelnde Frau. Auf dem Weg zu seinem Wagen grüßen ihn die Bewohner des verschlafenen Ortes freundlich, er ist beliebt. Er hat eine Decke dabei, die er, voller Vorfreude und Aufgeregtheit, auf den Beifahrersitz wirft und losfährt.

Piccoli ist ein großartiger Filmautofahrer. Er kurbelt nicht am Lenkrad herum, schaut sich nicht dauernd um, grimassiert nicht. Er fährt und weiß, dass Fahren etwas Versunkenes, Somnambules hat, dass man schweift, in den Gedanken, dass man treibt im Strom des Verkehrs. Chabrol, der diese Szene inszeniert hat, der Film heißt "Les noces rouges" (Blutige Hochzeit), muss begeistert gewesen sein von dieser Anfangsfahrt, vom Fahrer Piccoli. Den Filmscore, die Filmmusik, legt er ins Wageninnere, sodass sie Piccoli einkleidet. Wenn man den Wagen in einer Einstellung von außen sieht, in einer weiten Totalen, hört man die Musik nur sehr leise, kaum hörbar zwischen Motorgeräusch und Naturatmo. Die Musik gehört dem Fahrer, dem Liebenden. Sie ist nicht mehr für uns. Chabrol huldigt dem Fahrer, Piccoli. Nicht dem Bild. Der weiten Totalen.

Als Piccoli dann den einsamen Waldweg erreicht, den Wagen zum Stehen bringt, aussteigt und am Ende des Weges Stéphane Audran sieht, die Geliebte, macht er etwas, was man so in anderen Filmen niemals gesehen hat. Das Zusammentreffen der Liebenden, das ist ja eine Figur, ein Tanz - sich in die Arme fallen, sich vorsichtig nähern, sich folgen in irgendein Versteck. Piccoli bricht aus diesem Figurenlexikon, dieser Grammatik aus. Er wirft die Decke, die den beiden wohl als Unterlage dienen soll an diesem nicht so warmen Herbsttag, von sich und stürzt auf Stéphane Audran zu. Er reißt ihr die Kleider vom Leib, und da ist nichts Gewalttätiges in diesem Reißen, es hat etwas von einem Kind, das das Geschenkpapier als furchtbare und nutzlose Überflüssigkeit betrachtet, die es loszuwerden gilt. Stéphane Audran macht es ihm nach. Diese beiden, dort im Wald, die jeweils verheiratet sind, die gesellschaftliche Rollen zu erfüllen haben, die Repräsentanten der französischen Bourgeoisie sind, werden zu Kindern. Beider Leben ist falsch, sie sind in falschen Ehen gefangen - zusammen holen sie sich das Ungezähmte, Unerzogene, die Unschuld zurück.

Niemand kann heute mehr so rauchen. Bei ihm ist Rauchen Denken, Atmen, Planen

Später brechen sie ins Schlossmuseum ein und lieben sich auf dem Königsbett, lassen Champagner gegen Ölporträts von Adeligen spritzen. Dann raucht Piccoli. Niemand kann heute mehr so rauchen. Piccoli raucht nie aus Nervosität. Rauchen ist Denken, Atmen, Planen. Er liegt am Fußende, Stéphane Audrans Fuß beiläufig liebkosend, zieht an der Zigarette. Er schaut sich um. "Man treibt es in der schönsten Umgebung - aber am Ende ist alles wieder schäbig." Ein trauriges Kind, das die Kindheit verloren hat. Sie schauen sich an und in diesem Moment entscheiden sie, dass sie morden werden, dass das alles nicht reicht, diese paar erstohlenen Momente.

Du willst am Montagnachmittag kurz etwas im Computer nachschauen, und du siehst gleich das Schwarz-Weiß-Bild mit dem jetzt uralten vertrauten Gesicht. Wie irre er sich im Alter noch mal verändert hat. Wenn du auf dem Bildschirm solch ein Foto siehst, weißt du sofort, dass der oder die gestorben ist, denn in der "Tagesschau" und im Internet sind die Schwarzweißen immer tot. Anders als im Kino, da sind sie die Lebendigsten, immer noch. Man könnte das in unserem Metier eigentlich zur Redewendung machen: "Sag mal, die ..., ist die eigentlich noch farbig oder schon schwarz-weiß?"

Jedenfalls liest du einen kurzen Moment später, dass der große Piccoli tot ist, und denkst: Wieso schreiben die das, das weiß ich doch längst.

Die Verarbeitung von Todesnachrichten ist asynchron. Die Information und das, was du in dem Moment denkst und fühlst, passen fast nie zusammen. Denn die Tränen schießen dir nicht beim Lesen des Satzes "Michel Piccoli ist tot" in die Augen. Sondern einen Wimpernschlag später, als die Nachricht des schwarz-weißen Bildes dich endgültig erreicht.

Eigentlich passend, denn Piccoli ist in seinem Spiel auch oft etwas asynchron. Er hat sein eigenes Tempo und nimmt sich die Freiheit, an ihn gerichtete Botschaften erst dann zu erwidern, wenn er es für angebracht hält. Oder manchmal eben auch gar nicht zu beantworten. Dadurch öffnet er sich dir als Zuschauer, gibt sich zu erkennen. Man muss als Spieler immer die Oberflächen zerkratzen und durchbrechen, beim anderen und bei sich selbst, Eingänge schaffen.

Könnte es im Film jemals einen besseren Zuhörer und Zuschauer geben?

Vielleicht hat sein Gespür für Phrasierungen - er stammt aus einer Musikerfamilie - damit zu tun, dass er im Paris der 50er-Jahre der Schauspieler wurde, der er ist. Damals, als Miles Davis in der Stadt lebte und spielte und ein Liebesverhältnis mit Juliette Greco hatte. Die dann später Michel Piccoli heiratete. Du bildest dir ein, dass die Eleganz und die emotionale Wucht dieser Musik die Temperatur einer ganzen Stadt und ihrer Menschen beeinflusst, aber vielleicht ist das auch nur Wunschdenken. Oft hat er so gespielt, wie Sinatra gesungen hat, diese irrsinnige Souveränität im Timing.

Er ist der beste Zuhörer und Zuschauer im Film.

"Was machst du?", fragt Romy Schneider an der Schreibmaschine im ersten Dialog von "Les choses de la vie" den hinter ihr sitzenden Piccoli. "Ich schaue dich an", sagt er. Und raucht.

Wenn Jean Gabin, wie er selbst meinte, im Film so besonders gut telefonieren konnte, dass er sich in die Drehbücher zusätzliche Telefonszenen hineinschreiben ließ, dann könnte man vermuten, dass Piccoli in den Scripts nach Szenen gesucht hat, in denen er einfach zuhören und zuschauen konnte. Das ist das Größte: Piccoli beim Zuschauen zuzuschauen.

Michael Piccoli ist ein schöner Mann. Er ist behaart, elegant und höflich. Er hat Stil und er weiß zu lieben. Aber in allen Rollen ist da etwas Kindliches: wie er die Dinge berührt, anfasst, untersucht. In den "Demoiselles de Rochefort" heißt er Simon Dame. Er hat ein Geschäft für Musikerbedarf. Er ist von der Frau seines Lebens verlassen worden, zehn Jahre ist das schon her. Sie hat ihn wegen seines lächerlichen Namens verlassen. Sie wollte nicht Madame Dame heißen. Piccoli hat dafür vollstes Verständnis. Diese Geschichte hat ihm sehr gefallen, Trennung aufgrund von Nachnamen. Auch Kinder würden das verstehen. Er hat dann etwas eingefügt, in diesen großartigen Film. Am Tag, als sein alter Freund Gene Kelly das Geschäft betritt, da sieht man Piccoli an seiner Ladentheke sitzen und wie ein Kind in einer Kita in sich versunken Bilder ausschneiden. Als die Ladenklingel ertönt, versteckt er sein Spielzeug verschämt und schnell unter der Ladentheke.

Einmal hat Piccoli bei Hitchcock gespielt. Er war der Spion Topas. Am Ende, wenn er enttarnt worden ist und der, der ihn enttarnt hat, zurück nach Washington fliegt und die Gangway in Orly hinauf ins Flugzeug steigt, sieht dieser Piccoli auf einer anderen Gangway in ein Flugzeug nach Moskau steigen. Beide erkennen sich. Schauen sich an. Und dann fangen sie an zu lachen. Sie finden die ganze Geschichte zum Lachen. In der deutschen Fassung haben sie das Ende rausgeschnitten und Piccoli sich erschießen lassen. Das Schwache, Unerwachsene, das Kindliche, Staunende und die Grandezza, das darf hier nicht zusammengehen.

Du liest, er sei gestorben, siehst vor dir aber nicht den Greis, sondern Pierre in "Les choses de la vie", wie er nach dem letztlich tödlichen Autounfall auf eine Wiese geschleudert worden ist. Er liegt dort und kriegt alles mit, was um ihn herum passiert. Du hörst sein staunendes Geflüster, er ist irgendwo zwischen hier und dort.

Jetzt musst du wieder blinzeln bei dem Gedanken, dass er sich damals mit diesem Sterben für immer in dein Leben, in dein Herz gespielt hat.

Matthias Brandt ist Schauspieler, Christian Petzold ist Drehbuchautor und Regisseur.

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