Nachruf auf Dirigent Lorin Maazel:Der Virtuose

Lorin Maazel Dirigent

Proben mochte er nicht, nicht einmal Durchspielen: Aber die Strahlkraft, die Lorin Maazel entwickelte, setzte sich immer durch.

(Foto: dpa)

Eine wunderbare Mischung aus Musikalität, Phantasie und Gedächtnis: Der große Dirigent, Geiger und Komponist Lorin Maazel ist im Alter von 84 Jahren gestorben.

Von Harald Eggebrecht

Niemand konnte Giacomo Puccinis brisante Opern-Mischungen aus enormer Emotion, raffinierter Orchestermacht und vital erotischem Gesang so unwiderstehlich dirigieren wie Lorin Maazel. Es war in den frühen siebziger Jahren, als er noch Chef der Deutschen Oper Berlin und zugleich des Radio-Symphonie-Orchesters Berlin war. Da kippten auch Puccini-Verächter plötzlich gleichsam um und ließen sich hinreißen von der Delikatesse, Präzision und der bestechenden Überlegenheit, mit der Maazel den großen Opernapparat beherrschte und souverän seine Vorstellungen im Sinne Puccinis umsetzte.

Eine andere unlöschbare Erinnerung an diesen immer schlanken, elastischen, manchmal sich selbst virtuos ausstellenden, aber immer auf Perfektion und Unmissverständlichkeit in seiner Schlagtechnik ausgerichteten Dirigenten bleibt Gustav Mahlers gewaltige tragische 6. Symphonie in der Berliner Philharmonie, auch in den siebziger Jahren. Maazel dirigierte sein Radiosymphonieorchester mit geradezu erschreckender Genauigkeit und fordernder Unmittelbarkeit. Mahlers Eruptionen der Verzweiflung setzte das Orchester in dieser Aufführung fast brutal in der Heftigkeit und Ausdruckswut um, die Maazel da auslöste.

Genauso führte er die Musiker zu einem Aussingen Mahlerscher Kantilenen, dass deren Schmerzlichkeit und Untröstlichkeit, ihre Grellheit wie ihre Fahlheit niemanden kalt lassen konnte. Und als dann die Hammerschläge im Finale herabsausten, duckten sich die Zuhörer unwillkürlich so, als ob ein Riesenhammer auch sie zu zerschmettern drohte.

Leichtfüßig und geschmeidig agierte er, gab die Einsätze unfehlbar und akkurat

Lorin Maazel, dessen unvergleichliche Karriere schon im Knabenalter begann, als der große Leopold Stokowski den Neunjährigen einlud, das Los Angeles Philharmonic Orchestra zu dirigieren, stammte aus einer amerikanischen Musikerfamilie, der Vater Sänger, die Mutter Pianistin. Geboren wurde er am 6. März 1930 in Paris, wuchs in Los Angeles auf und lernte früh Klavier und Geige, ein Instrument, dass er noch in späten Jahren ausgezeichnet spielte und da noch CDs als Violinvirtuose aufnahm.

Aber das Dirigieren war sein Hauptinteresse. Nach Stokowski war es kein Geringerer als Arturo Toscanini, der den nun Elfjährigen 1941 vor sein NBC-Symphony Orchestra ließ. Was muss das für ein Talent gewesen, das solche Pultheroen überzeugen konnte! Victor de Sabata, auch ein weltberühmter und gefürchteter Maestro, hat diesen außergewöhnlichen Jungen, als "wunderbare Mischung aus Musikalität, Phantasie und Gedächtnis" beschrieben.

Leichtfüßig, geschmeidig, erschreckend

Diesen Wunderknaben ließen sich auch die anderen berühmten Orchester Amerikas nicht entgehen. Doch Maazel war universell interessiert, studierte Mathematik und Sprachen, ging nach Rom. In Italien stieg er wie ein Komet auf, beeindruckte mit seiner eminenten Metierkenntnis, seiner dirigentischen Meisterschaft das alte Europa, brillierte in Südamerika und Japan ebenso. Maazels Können hatte in seiner Leichtfüßigkeit, Geschmeidigkeit und furchtlosen Sicherheit manchmal auch etwas Erschreckendes, so unfehlbar und akkurat gab er Einsätze, organisierte er Steigerungen ebenso wie er weite Landschaften aus unzähligen ausdirigierten Klangnuancen gestalten konnte.

Solche Souveränität von Beginn an macht einen gewiss nicht geduldig, so dass Maazels Kunst manchmal so scheinen wollte, als dirigiere er zwar das Orchester, aber in letzter Konsequenz sich selbst im Einklang dessen, was ihm die Musik sagte. Und es gab neben aller musikalischen Leidenschaft, allem Einsatz für die Werke, allem Willen, so deutlich und präzise wie möglich zu schlagen, auf dass kein Irrtum für die Musiker möglich sei, auch ein sportives Element in Maazels Kunst.

Vielleicht war das ein amerikanische Erbteil, Rekorde zu sammeln: Am Ende hatte er 200 Orchester in aller Welt geleitet, in mehr als siebentausend Aufführungen, alle neun Beethoven-Symphonien an einem Tag dirigiert mit drei Orchestern. Er war auch der erste westliche Dirigent, der ein westliches Orchester, gar die New York Philharmonic in Nordkoreas Hauptstadt Pjöngjang brachte. 1960 war er der erste Amerikaner am Pult in Bayreuth mit Wagners "Lohengrin".

Die Musiker konnten sich blind auf ihn verlassen, seine Strahlkraft setzte sich durch

Doch hatte er anfangs auch im Pittsburgh Symphony Ochestra als zweiter Geiger die andere Seite seines Berufs kennengelernt, ein Streichquartett gegründet und war so in einer Weise gewappnet wie nur wenige seines Faches. Maazel wurde Chefdirigent in London, folgte dem legendären George Szell in Cleveland nach, leitete das Orchestre Naional de France in Paris, war auch für zwei Spielzeiten Operndirektor in Wien, wo er allerdings wenig Glück hatte, übernahm das ihm von früher her vertraute Pittsburgh Symphony Orchestra, und landete, nachdem er mit großer Enttäuschung darauf reagierte, nicht zum Nachfolger Herbert von Karajans von den Berliner Philharmonikern gewählt zu werden, 1993 schließlich in München beim BR-Symphonieorchester.

Obwohl er unnahbar auf der Bühne wirkte, naturwissenschaftlich nüchtern und sportiv, so gelangen ihm immer wieder grandiose Aufführungen - deren Wunder, ihn, den Mathematiker, am meisten zu überraschen schienen. So etwa eine Aufführung von Mahlers Neunter, in der er jedem Takt ein leicht anderes Tempo verlieh, weshalb die requiemhafte Grandezza des Stückes jeden Hörer überwältigte. Maazel schien fassungslos, dass so etwas möglich sein konnte. Ähnlich ging es mit der Zweiten von Sibelius.

Voller Charme jenseits der Bühne

Einen solchen Dirigiervirtuosen, dessen Gedächtnis grenzenlos zu sein schien, hat es in der Neuzeit nicht noch einmal gegeben. Die Musiker konnten sich blind auf ihn verlassen. Umso größer ihr Erstaunen, als er sich auf einer Japan-Tournee "verschlug", als er aus Versehen in Prokofjews Fünfter einen Vierviertel- statt eines Fünfvierteltakts dirigierte. Aber sofort fand er wieder in die Musik, das Publikum hatte nichts von diesem Unfall bemerkt.

Maazel war auch kein Freund von Proben. Einmal setzte er Beethovens technisch aberwitzig schwere und im Finale rasante Achte an, die die jüngeren Musiker noch nie, die älteren zuletzt vor Urzeiten gespielt hatten. Nach einmal Durchspielen, erklärte Maazel: "Jetzt haben wir auch dieses Stück im Repertoire" - die Musiker waren hörbar noch mit dem Zählen beschäftigt. Aber die Strahlkraft, die positive Energie, die Maazel entwickeln konnte, setzte sich immer durch.

Jenseits der Bühne war einer der charmantesten Gesprächspartner überhaupt. Leicht distanziert wie er war, ließ er seinen Gesprächspartner nie allzu nah an sich herankommen. Nobel und mit Haltung saß er am Tisch, redete ruhig über Musik, seine Pläne - es klang leicht unbeteiligt. Dann erzählte er, dass er Stücke nicht mit Partituren, sondern aus den Stimmen lernte, dass er für seinen Beethovenzyklus jede einzelne Stimme, auch die der Pauke, auf seiner Geige durchgespielt und Veränderungen angebracht habe.

Kaum aber war das Mikrofon aus, da taute er auf, da geriet er ins Schwärmen. Dann waren seine Kinder das Thema und die von ihm komponierte Musik, darunter die Oper "1984", Virtuosenkonzerte für berühmte Kollegen. In die Atonalität zog es ihn nie, er blieb tonal - vielleicht hatte er deshalb auch so einen Faible für Pendereckis Sinfonien, die einem ähnlichen Klangideal verpflichtet sind.

2003 zog er dann weiter, nach New York, nach Valencia. Und dann die Überraschung, kam er doch 2012 nach München, zur Konkurrenz, dieses Mal zu den Münchner Philharmonikern. Offenbar hatte er noch eine Rechnung offen mit dieser Stadt, die in seinen BR-Jahren nichts so recht warm werden wollte mit seiner französisch-amerikanisch-nüchternen Art. Jetzt zog er Bilanz, dirigierte noch einmal alle großen Stücke des Repertoires, angefangen, natürlich, bei Mahlers Neunter. Mittlerweile war er milder geworden, er dirigierte aus der Partitur, er ließ einen warmen, dunkel glänzenden Klang zu. Hinreißend gelang ihm das in Brittens Requiem, dem er alles Bombastische verweigerte, dessen ganz Berlioz verpflichtete Klanglichkeit er mit liebevoller Trauer ausbreitete. In seinem zweiten Münchner Jahr aber warf ihn eine Operation aus der Bahn, kürzlich gab er seinen Rücktritt von seinem Chefposten bekannt.

Am 13. Juli 2014 verstarb Lorin Maazel im Alter von 84 Jahren in Castleton Farms, Virginia.

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