Nachruf auf die analoge Fotografie (I):So süß das Gift der analogen Bilder

Weinendes Auge: Der herbe Verlust von Sinnlichkeit ist zu beklagen. Ein Krankenbesuch, anlässlich des Hinsiechens der traditionellen Fotografie.

CLAUS HEINRICH MEYER

Todes-Stunde nicht bekannt. Todesursache? Totenschein? Bisher verweigert. Vorbereitungen für eine Trauerfeier im stillen Familienkreis? Der ehemals liebste Begleiter der neuzeitlichen Zivilisation, spätes Kind der Aufklärung, ist nicht mehr? Gerücht oder Hysterie? Bilden wir uns das nahe Ende ein? Ein unangemeldeter Besuch sollte Klarheit bringen.

Nachruf auf die analoge Fotografie (I): Täuschend ähnliche Daguerrotypie ohne den Einsatz hochgiftiger Substanzen? Niemals!
 (Mark Kessell: The Domestication of Wonder, Daguerrotype, unique, 2003)

Täuschend ähnliche Daguerrotypie ohne den Einsatz hochgiftiger Substanzen? Niemals! (Mark Kessell: The Domestication of Wonder, Daguerrotype, unique, 2003)

Schwarz verdunkeltes Zimmer. Rotes Licht flutete schwach. Nach Minuten der Gewöhnung erkannte man den Geist Walter Benjamins, welcher sich an einer vergilbten Schwarz-Weiß-Fotografie zu schaffen machte, einer Schöpfung aus kostbaren Silbersalzen. Die Aura. Sie verkümmert, diagnostizierte Benjamin. Dahingegen wispelte es von der samtüberzogenen Récamiere, welche als Requisit im Atelier des berühmten Künstlerfotografen Nadar (1820 - 1910) heftiges Fotografieren erlebt haben musste: Ich bin das letzte latente Bild der analogen Fotografie auf Erden. Eine erschütternde Szene. Im Hintergrund wuselte ein, offenkundig, Alchimist. Beißende Flüssigkeiten dünsteten aus fahlen Schalen. Er rührte, der Alchimist, eine teuflische Mischung zusammen. Natriumsulfit + Natriumcarbonat + Metol + Hydrochinon + Kaliumbromidlösung. Nicht einatmen oder schlucken! Extrem gefährlich! leuchtete es aus einem Totenschädel. Der Alchimist beugte sich über den frisch angesetzten Papierentwickler. Herrlich blau-schwarze Warmtöne werden entstehen, triumphierte er.

Lebensgefahr? Seit 1839, als der französische Staat das allererste, hochfeine, hochkomplexe fotografische Verfahren die Daguerreotypie ankaufte und der Menschheit übereignete -- seit 169 Jahren also tauchten Millionen Liebhaber und Meister des neuen Mediums ihre Finger, Filme und Prints in schwergiftige Brühen. Bäder. Betrachtet durch die Brille heutiger Feinstaubhysteriker hätten sie auf der Stelle tot sein müssen. Sind wir aber nicht, murmelte der letzte Alchimist im letzten Fotolabor der sogenannten analogen Fotografie und deutete auf sein Vergrößerungsgerät, von dessen Filmbühne er ein einzelnes Staub-Fusselchen mittels Druckluft und Antistatik-Tüchlein zu entfernen hoffte.

Dies alles zusammen, hüstelte der Gewährsmann zum Abschied, waren und sind die Geheimnisse unserer unvergleichlichen Kunst -- ein Zusammenspiel. Einerseits Technik, andererseits Intuition; einerseits Chemie, anderseits Physik, einerseits Abstraktion, andererseits Sinnlichkeit. Dazu ein Auge für gefundene wie für inszenierte Bilder. Und jeder, wirklich jeder kann sie hervorrufen, mit einfachsten Mitteln, wenn es sein muss. Bilder hervorrufen -- klingt das nicht wie ein Wunder? Und heißt es nicht im Bericht Aragos vor der französischen Deputiertenkammer im Juli 1839, die neue Erfindung enthalte nicht eine einzige Verrichtung, die nicht jedermann vollbringen könne? Jedermann!

So süß das Gift der analogen Bilder

Nach soviel Vergewisserung verließen wir die vermeintliche Todeskammer der analogen Photographie. Wir schreiben 2005. Draußen kursieren gewisse sorgenbehaftete Wirtschaftsnachrichten. Leica angeschlagen. Agfa abermals Pleite. Von Polaroid lange nichts gehört. Etcetera. Wie soll das enden? Aber wächst nicht anderswo längst neues Leben? Schmetterlingsgleich taumeln menschliche Einfaltspinsel von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit, halten klitzekleine Digi-Kameras auf Armlänge von sich, erkennen die Motive auf den winzigen überstrahlten Displays überhaupt nicht, betätigen gleichwohl den Auslöseknopf, machen Bilder nach irgendwohin, ins Ungefähre. Das heißt, der CCD-Sensor, Charge-Coupled-Device, wandelt zögerlich Cyan, Magenta und Yellow in elektrische Signale. Ströme von Daten ergießen sich ins Speichermedium, von wo aus sie ihren Sieges- und Verdrängungsfeldzug um die ganze Welt antreten.

Ist das so? Einerseits: Vorletztes Stündlein eines schnöde zurückgesetzten, abservierten, zu kleinen Teilen kulturell hochstehenden, längst, das MoMA voran, musealisierten -- allerdings doch: Massenmediums, dessen Zeugnisse und Zeugen banal, künstlerisch, journalistisch waren, nebeneinander, dessen ausübende Spitzen, Fotokünstler nach allgemeiner Übereinkunft, zu allen Zeiten seit 1839 außerordentliche Individuen und sonderbare Charaktere gewesen sind. Und nunmehr? Periodische wie unperiodische Printmedien von kalten, seelenlosen Pixelströmen überflutet? Aliens-Produkte?

Es drückt schon aufs Gemüt, wenn man, genötigt zur "Zusammenfassung" eines zumindest kritischen Zustands, sich vergegenwärtigt, wieviel kluge (und tiefe) Sätze gedacht und geschrieben worden sind nach der Geburt eines Bildmediums für die ganze Welt -- aus dem Alten Europa. Man blättere einmal in der vierbändigen "Theorie der Photographie" von Kemp/Amelunxen (leider nur antiquarisch): "Das Werk der besten zeichnet sich aus durch dokumentarische Qualität, durch Kunstsinn und Erfindungsgeist" (Gisèle Freund). Baudelaire freilich spottete, die Fotografie sei die Zuflucht aller gescheiterten Maler, der Unbegabten und Faulen. Alfred Stieglitz aber, vielseitiger großer Künstler, hatte herausgefunden, der fotografische Apparat, Objektiv, Kamera, Platte, sei ein biegsames Instrument und nicht ein mechanischer Tyrann. Stieglitz wiederum ist stellvertretend auch zu nennen: wenn man beschreiben möchte, welche "Aura" (jenseits von Benjamin) fotografische Prints zu umgeben vermag. Schönheit feinster Halbtöne, der Charakter anspruchsvoller Papiere und Verfahren. Bromsilbergelatine, Platindruck. Heliogravüre. Was für Namen. Welche Sinnlichkeit der hochgiftigen Prozesse. Und zu alledem eine beinahe ewige "Haltbarkeit". Beständigkeit.

Was aus der Silberfotografie werden mag? Sie glänzt in einer Nische. Man wird sich nach ihr sehnen. Man wird ihre feinmechanischen Handwerks-Kunstwerke küssen und teurer verauktionieren, immer teurer; für die so genannten Vintage-Prints wird man noch mehr bezahlen, viel mehr. Und man wird aufhören, irgendwann, das nicht mehr neue, digitale Bildmedium gegen das alte sinnlos auszuspielen.

Natürlich ist (und war) das jeweilige Massen-Spielzeug für Knipser kein Maßstab innewohnender Möglichkeiten, und digitales Bildermachen ist ohnehin eine Sache für sich. Fortsetzung der Computerspiele. Fesselnd wie fast alles, was man in autistischer Verfassung mit EDV-Werkzeugen anstellen kann. Natürlich ist es fabelhaft, den "Führer" nachträglich kolorieren zu können, Unschärfe in Schärfe zu verwandeln. Und wenn wir ein Leben lang es nicht vermochten, die heiß ersehnt analoge Pseudo-Solarisation aus den Kniff- und Trickbüchern von Otto Croÿ zu erlernen: Ein einziger Modus des digitalen Bilderwesens macht es möglich, jedenfalls "so ähnlich". Andere Modi erschaffen das Zwitterwesen Merkelstoiber oder solche Hühnerkatzen wie ein Morgensterngedicht. Aber: Die witzigsten digitalen Bild-Manipulationen, perfekt in die Welt gesetzt, sind und bleiben "Ausdrucke" , sie haben kein Leben.

Wiederum mag das Œuvre der japanischen Künstlerin Miwa Yanagi ein Prospekt dessen sein, was aus digitaler Fotografie und späterer Computer-Generierung unnachahmlich entstehen kann: Ein hohes Maß an Künstlichkeit, Surrealismus -- geboren aus Einfallsreichtum, so dass man ihre Großmütter, ihre Elevator-Girls, vor eineinhalb Jahren im Deutschen Guggenheim, Berlin, nicht vergisst.

Hauptsächliches Manko der lichtempfindlichen Chips ist jedoch ein Paradox: Sie "können" nur Blaugrün, Purpur und Gelb, einen Schwarzweiß-Modus gibt es nicht. Dies bejammern nicht ehrwürdige Meisterinnen und Meister der analogen Kunst; thematisiert wird es von jungen Computerfreaks. Aber das könnte ihnen so passen. Eine täuschend ähnliche Daguerrotypie ohne den Einsatz hochgiftiger Substanzen? Niemals.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: