Süddeutsche Zeitung

Nachruf auf das Sommerloch:Die Los-Wochos-Mentalität

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Nie mehr hitzefrei: Längst ist der Sommer flächendeckend von Kulturfestivals überdacht und die Muße regenfest gemacht. Das kulturelle Sommerloch verschwindet - ein Nachruf.

Christopher Schmidt

Das ganze Jahr über wird gearbeitet, im Sommer aber ist man draußen. Zumindest im Geiste. Sommer bedeutet hitzefrei als Grundgefühl, eine allgemeine Lockerung des Seins und Beurlaubung vom Realitätsprinzip. "Halm", so heißt es in Martin Walsers "Brandung" über den Protagonisten des Romans, einen Lehrer, "wachte auch in den Ferien auf, als müsse er in die Schule, aber nachdem er aufgestanden war, tat es ihm gut, jede Bewegung ein bisschen verkommen lassen zu dürfen". Was Walser hier meint, ist eine Entleerung der Automatismen des Alltags, die spielerische Verwandlung der Routine in eine Arabeske.

Denn der Sommer ist die Zeit des Spiels, von dem Friedrich Schiller sich erhoffte, dass es einen gesunden lasse von einseitigen Beanspruchungen. Schiller war der Erste, der über die arbeitsteilige Gesellschaft nachdachte. Entfremdung ist das Wort, das man erst später für die Beschädigungen der Spezialisierung fand. Und Schillers Antidot würde man heute Ganzheitlichkeit nennen.

Im Spiel, namentlich im freien Spiel der Künste, würden, so Schiller, die abgestumpften Sinne geschärft und die Nerven von ihrer Taubheit erlöst, auf dass aus Profis wieder Menschen werden. Angesichts der rasenden Vermehrung spielerischer Lockerungsangebote durch die Freizeitindustrie stellt sich allerdings die Frage, ob Schillers therapeutischer Spielbegriff heute noch gilt.

Längst ist der Sommer flächendeckend überdacht, die Muße regenfest gemacht. Das Festival ist der Ausnahmezustand als fester Ortstermin, die kalendarische Ekstase. Die Hundstagelöhner haben sich zu Tode gesiegt. Das Sommerloch wurde erfolgreich geschlossen. Als Festival-Hopper kann man mittlerweile bis tief in den Herbst unterwegs sein, ohne jemals Heimatboden zu berühren.

Und es ist hier nur von den sogenannten Leuchttürmen der Festival-Landschaft die Rede. Es gibt von ihnen inzwischen so viele, dass es schwer geworden ist, noch den Hafen zu erkennen. Festspiele sind fester Bestandteil des Stadtmarketings. Sogar Neapel hat jetzt ein Theater-Festival von internationalem Zuschnitt, einen Leuchtturm über Müllbergen.

Zu beobachten ist dabei eine Doppelbewegung: Auf der einen Seite die Festivalisierung der institutionellen kulturellen Grundversorgung, auf der anderen Seite die Verstetigung und Ausdehnung der Festivals zur parallelen Saison, wie dies etwa bei den Wiener Festwochen der Fall ist. Die festen Bühnen eventisieren das ganze Jahr über künstlich ihre Spielpläne nach einer Los-Wochos-Mentalität. Und wenn sie nicht die Theaterferien durch Sommerbespielungen überbrücken, verkürzen sie zumindest die spielfreie Zeit.

Damit sie im Herbst früher beginnen können, treten die großen Bühnen bei den wichtigen Festivals als Koproduzenten auf. Das Festival liefert ihnen eine schlüsselfertige Aufführung für die neue Saison. "Weltpremieren" sieht man seltener in Weltstädten als in Wunsiedel oder Haag am Hausruck.

Palmenstrand in der City

Die Festivals wiederum brauchen starke Partner. Networking bedeutet Risikoteilung, positiv aber das, was man Cross-Marketing nennt. Und die Vernetzung verlängert die Wertschöpfungskette, auch wenn dadurch der Schauplatz immer ferner rückt, an dem die Flamme brennt. Moderne Festivalplaner sind nicht Gastgeber, die den Rahmen schaffen, für Beleuchtung und Bewirtung sorgen, sie sind die Bio-Ingenieure des Theaters. Sie betreiben Zuchtwahl. Mit Liebe hat das nicht viel zu tun.

Worum es geht, ist, dass sich starke Immunsysteme paaren. Die ideale Festivalproduktion, mittlerweile eine eigene Spezies, mag ein bisschen gesichtslos wirken. Aber sie ist robust genug, um in den unterschiedlichen kulturellen Klimazonen von Madrid, London und Athen zu bestehen. So gibt es mehr Brot als Spiele. Vom Widerspruch der Ausnahme als Regel zeugt jede einzelne Produktion. Obwohl das dem Urgedanken widerspricht.

Das Fest soll ja das Originäre und Unwiederholbare feiern. Einmal nur Wagner und nichts anderes - dieser Extremismus ist die wunderbare Zumutung und Anmaßung von Bayreuth. Und als Max Reinhardt mit den Salzburger Festspielen seine Vorstellung eines totalen Theaters verwirklichte, wollte er der zynischen Metropolenkunst eine mystische Feier entgegensetzen, maßlos und zeigefreudig. Heute wird der Palmenstrand einfach in der Großstadt aufgeschüttet.

Schwindel der Spiele

Der Widerspruch kehrt im Verhältnis des Kulturbetriebs zu sich selbst wieder. Das Festival ist für die Bühnen auch die Ausnahme von der eigenen Normalität und ihren Routinen. So sehr Theater an sich schon Spiel ist und damit Antagonist der Wirklichkeit, so sehr erzeugt es seine eigenen Winter. Die Inflation der Festivals zeigt nicht nur, dass der Realitätsdruck zunimmt, sondern steigert ihn noch.

Zu sehr hat sich die Schlagzahl erhöht, um die Motoren in einer Ehrenrunde ausglühen zu lassen. Selbst am Ende der Spielzeit läuft der Betrieb auf Hochtouren, um die Festivals zu bestücken, die eben nicht mehr das Gegenteil des Alltags sind, sondern dessen Fortsetzung mit anderen Mitteln. Im Herbst etwa eröffnet die Berliner Schaubühne mit "Hamlet", Premiere hat das Stück aber schon im Juli in Griechenland.

Der italienische Philosoph Giorgio Agamben versteht wie schon Schiller unter Spiel die Verflüssigung des Realitätsprinzips. Er sieht in den Spielen der Kunst ein listiges Verfahren im Definitionskampf. Doch, so Agamben, "dass der moderne Mensch nicht mehr zu spielen versteht, wird dadurch bewiesen, dass sich alte und neue Spiele schwindelerregend vervielfachen.

Im Spiel, bei Tanz und Festen sucht er verzweifelt und beharrlich nach dem Gegenteil dessen, was er dort finden kann: nach der Möglichkeit, wieder zu dem verlorenen Fest Zugang zu bekommen, nach der Rückkehr zum Heiligen und dessen Riten, und sei es auch nur in Gestalt der abgeschmackten Zeremonien der neuen Religion der Medienspektakel oder eines Tangos bei einem Tanzkurs in der Provinz".

"Let's go narrisch"

Sinnbild der vergeblichen Sehnsucht, sich an abgeschnittene Energieströme anzuschließen, sind die Menschenschlangen vor den Kartenschaltern. In Großbritannien, wo das Queuing eine Art Breitensport darstellt, kann man das beispielhaft beim Fringe Festival in Edinburgh beobachten. Überall bilden sich Schlangen von Kulturtouristen, die anstehen wie Pilger, um den Segen zu empfangen. Für Agamben ist der Tourismus die Leitindustrie des Kapitalismus. Er bezeichnet den Phantomschmerz der Gegenwart: die Unfähigkeit zum Erleben, "und nichts ist so verblüffend wie die Tatsache, dass es Millionen normaler Menschen schaffen, sich die vielleicht verzweifelste Erfahrung, die es gibt, am eigenen Leib anzutun."

Im Festivalzirkus sind Tourismus und Spiel miteinander kurzgeschlossen. Wellness und Katharsis - all inclusive. Das Sommerloch hat dabei seine ursprüngliche Funktion eingebüßt. Nicht, weil es geschlossen wurde, sondern weil das, was es füllt, kaum mehr eine spielerische Aufhebung ermöglicht. Die überindividuellen Ekstasen der tragischen Feste der Antike, stellte Roland Barthes bereits 1953 fest, seien heute in den Sport ausgewandert. Nur die großen Sportereignisse könnten die Leidenschaften so bündeln wie einst Tragödie und Satyrspiel.

Zieht man dies in Betracht, klingt der Slogan der Fußball-EM "Let's go narrisch" nicht mehr ganz so hirnverbrannt. Zumindest im barocken Österreich scheint der Sinn für die entgrenzenden Kräfte sommerlicher Spiele noch nicht vollends abgestorben zu sein.

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SZ vom 12.6.2008/korc
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