Nachruf:Amerikas Spezialist für Deutschland

Historiker Fritz Stern gestorben

Fritz Stern: Wenn ihn etwas an der neuen "Berliner Republik" störte, dann nicht die Besorgnis vor neuen deutschen Eskapaden, sondern der Name. Berlin sei nicht gerade bekannt für leise Töne.

(Foto: dpa)

Er floh 1938 in die USA und wurde zum Historiker Deutschlands im 20. Jahrhundert, der vor dem Kulturpessimismus warnte. Jetzt starb Fritz Stern im Alter von 90 Jahren in New York.

Nachruf von Gustav Seibt

Am Ende schloss sich in Fritz Sterns langem und in jedem Sinn erfüllten Leben ein Kreis, und zwar kein guter.

Als er im Februar, zu seinem 90. Geburtstag, wie so oft zuvor, zur Lage der Welt befragt wurde, warnte er vor einem "neuen Zeitalter der Angst". Er erkannte es im Aufstieg einer verjüngten, geradezu erfrischten Rechten in Europa, in der rasanten Drift zu autoritären Regimen, die erst Ungarn und nun Polen erlebten. Das sei "furchtbar", schon die Geschwindigkeit, mit der sich der polnische Szenenwechsel vollzogen hatte, erschreckte diesen großen Zeugen des 20. Jahrhunderts.

Angst als politische Macht stand am Beginn von Sterns wissenschaftlicher Laufbahn. Der Titel seines ersten Buches wurde sprichwörtlich: "Kulturpessimismus als politische Gefahr" ("Politics of cultural despair", 1961 erschienen).

Der schmale Band analysierte die Kulturpanik der deutschen Rechten im Kaiserreich vor 1914, das Syndrom aus Massenverachtung und Demokratiefurcht, Dekadenzhysterie und Rassenhass, das alle politischen Fehlentscheidungen bis 1945 mitbestimmte, obwohl es sich bei den Urhebern, Paul de Lagarde, Julius Langbehn und Arthur Moeller van den Bruck eher um Ästheten und Kulturkritiker als um politische Denker handelte.

Aber sie bestimmten das Klima eines Irrationalismus, der später als "konservative Revolution" verharmlost wurd und heute gern wieder zitiert wird.

Stern interpretierte dieses Denken nicht nur als Ideenhistoriker. Wirksam konnte es werden wegen tiefer Spaltungen und ungeklärter Verfassungslagen im Bismarckschen Reich, das ganze Bevölkerungsgruppen ausschloss und unter Verdacht stellte.

Den Ruin der politischen Kultur Amerikas erkannte er früher als andere

Als amerikanischer Staatsbürger sah sich Stern schon durch den Antiterrorkampf seit 2001 zu ähnlichen Analogien und Warnungen gedrängt. Im Herbst 2008 debattierte der kleine, quirlige Mann darüber hitzig mit Karl Heinz Bohrer, der 2003 den Irak-Krieg noch befürwortet hatte.

Den Ruin der politischen Kultur Amerikas, der sich in diesen Wochen vollzieht, erkannte Stern hellsichtiger und früher als andere als unmittelbare Folge des auch inneren "Krieges gegen den Terror" mit seinen Feinderklärungen.

Die düstere Rundung dieses Lebens schien noch zur Jahrtausendwende unvorstellbar. Stern war der Friedenspreisträger des Jahres 1999, und damals konnte er einen gelassen optimistischen Rückblick auf die Epoche werfen, die mit seinem eigenen Leben weitgehend zusammenfiel.

Bürger zweier Welten

Wenn ihn etwas an der neuen "Berliner Republik" störte, dann nicht die Besorgnis vor neuen deutschen Eskapaden, sondern der Name: Berlin sei nicht gerade bekannt für seine leisen Töne. Da sprach ein Landsmann.

Stern wurde im Februar 1926 in Breslau in eine Familie jüdischer Wissenschaftler geboren, die in der Mitte der deutschen Gesellschaft angekommen zu sein schien.

Sein Patenonkel war Fritz Haber, der Chemiker und Nobelpreisträger, der am Ende des ersten Weltkriegs für sein Vaterland, das Deutsche Reich, die neuartigen Chemiewaffen entwickelt hatte, deren Einsatz bald als Kriegsverbrechen galt.

Diese bürgerliche patriotische Herkunft konnte wie bei unzähligen anderen deutschen Juden Verfolgung und Vertreibung nicht verhindern. Zeit seines Lebens sprach Fritz Stern, der 1938 mit seinen Eltern nach New York flüchtete, eine unverwechselbare Mischung aus schlesischem Zungenschlag und amerikanischem Akzent.

Dass er nach dem Krieg in Amerika blieb, hat Stern mit Zufällen der akademischen Laufbahn, nicht mit einer Grundsatzentscheidung erklärt. Doch machten ihn seine Forschungen und Stellungnahmen bald zum Bürger beider Welten, mit den Vorzügen der souveränen Überschau.

Sein Hauptthema blieb die deutsche Geschichte seit Bismarck, zu der er nach dem Kulturpessimismus-Buch eine Fülle von ideengeschichtlichen und sozialhistorischen Forschungen beisteuerte. Sein Meisterwerk wurde die Doppelbiografie von Bismarck und seinem jüdischen Bankier Gerson Bleichröder, dem ersten Juden, der seinem Glauben treu blieb und doch ein preußisches Adelsdiplom erhielt.

Relative Macht des Geldes

Das 1978 nach über zwanzig Jahren Archivforschung erschienene, fast tausendseitige Werk erzählt die Finanzgeschichte der Bismarckschen Staatsgründung ebenso wie die prekäre Assimilations- und Abstoßungsgeschichte des bürgerlichen Judentums im 19. Jahrhundert.

Hatte Sterns Erstling die realpolitische Kraft von Ideen in den Mittelpunkt gerückt, so zeigte sein Hauptwerk die nur relative Macht der Finanz im politischen Kampf: Ohne Bleichröder hätten die Kriege von 1866 und 1870 nicht finanziert werden können, ohne ihn wäre Bismarck kein reicher Mann geworden, allein sein politischer Einfluss blieb gering, seine Stellung als verachteter "Hofjude" und "schmieriger Börsenjobber" veränderten weder Geld noch Adelstitel.

Trotzdem sah Stern in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts keine schicksalhafte Notwendigkeit, so viele Ursachen und Voraussetzungen er in der Vorgeschichte der Katastrophe erkannte.

Dankbar für jeden Widerständler

Neben der Neigung zur kulturellen Panik nannte Stern, vielleicht überraschend, am Ende seiner Forschungslaufbahn einen schwer fassbaren Faktor, den er "das feine Schweigen" nannte. Das bezog sich auf ein Zitat Nietzsches, der damit Goethes vornehme Zurückhaltung bei seinem Urteil über die Deutschen bezeichnet hatte.

Diese aristokratische Weigerung, mit offenem Visier und freiem Wort am Meinungsstreit teilzunehmen, die Neigung, sich lieber zurückzuhalten und den Lauten, Frechen und Fanatischen das Feld zu überlassen, erkannte Stern als Grundgebrechen einer Gesellschaft, die nie gelernt hatte, liberal nicht bloß zu denken, sondern auch zu leben.

Stern war dankbar für jeden Widerständler, den er ehren konnte, aber die Verdruckstheit der besseren Stände, die lieber kulturell übelnahmen als debattierten, blieb ihm, mehr als einzelne Ansichten, ein Hauptfaktor des deutschen Problems im 20. Jahrhundert.

Darum war er seit dem Mauerfall so dankbar für das Neue, das er in Deutschland und Europa erlebte.

1987 hielt er im Bundestag in Bonn die Rede zum Gedenken an den 17. Juni 1953. Er analysierte den Arbeiteraufstand in der DDR nicht als nationales Aufbegehren, sondern als Freiheitskampf, und damit nahm er die friedliche Revolution der Bürgerrechtsbewegung von 1989 hellsichtig vorweg - denn auch sie begann ja nicht als Wiedervereinigungsaufstand, sondern als Kampf um geheime Wahlen, um Meinungs- und Reisefreiheit. Dass sie dann in die Wiedervereinigung, und zwar demokratisch legitimiert, führte, hat Stern nicht nur begrüßt, er hat es aktiv befördert.

Er klärte Margaret Thatcher über Deutschland auf

Dass er zu den vier Historikern gehörte, die 1990 nach Chequers, auf den Landsitz der englischen Premierministerin eingeladen wurden, um Margaret Thatcher über Deutschland aufzuklären, hat Stern bis zum Schluss mit Stolz erfüllt - zu schwachen Witzen von seiner Sternstunde kicherte er begeistert. Da nämlich gab er bei der äußerst misstrauischen Lady, die persönlich die Cocktails mischte, energisch Entwarnung: Die Deutschen hätten sich geändert, nichts spreche gegen ein vereintes Land.

Das hinderte ihn übrigens nicht daran, Thatchers Sozialphilosophie ("So etwas wie Gesellschaft existiert nicht") als Ausdruck von widerwärtigem Soziadarwinismus zu geißeln. Nein, fein schweigen konnte der kleine große Mann mit seiner blitzenden Brille nicht mehr.

Er warnte und ermunterte, schrieb bezaubernde Karten zu Artikeln und Büchern, die ihm gefallen hatten. Ihm, der friedlich starb, verklärte sich aber auch nichts in seinen letzten Wochen. Das deutsche Willkommen für die Flüchtlinge begrüßte und bewunderte er, die Spaltung Europas ließ ihn Schlimmes ahnen. Aber er zitierte Franklin Delano Roosevelt: Das einzige, was wir fürchten müssen, ist die Furcht.

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