Nachrichten aus dem Netz (52):Strafe: Tod

Wer meint, mit dem Inzestkeller von Amstetten sei ein Tiefpunkt des Boulevardjournalismus erreicht, sollte einen Blick in das Onlinearchiv der Prozessberichte des Zentralen Londoner Strafgerichtshof werfen.

Johan Schloemann

Verbrechen: Sodomie. Strafe: Tod. Treffer: 53. Das ist das Ergebnis einer unheimlich guten Suchmaschine. Sie erschließt die Berichte der Prozesse am Old Bailey, dem berühmten Zentralen Strafgerichtshof von London. Von der Münzfälschung bis zur Kindstötung. Elend und Ausflüchte, Brutalität und Zwangslagen, Bosheit und Repression - davon ist dieses gigantische Archiv so voll wie die Gefängnisse voll von Delinquenten. Letzteres allerdings, die Enge in den Vollzugsanstalten, ist eine Entwicklung der jüngeren Zeit: Früher wurde geschlagen, hingerichtet, verbannt oder angeprangert; erst mit der Zeit dienten die Gefängnisse nicht mehr nur der kurzen Untersuchungshaft, sondern auch längeren Haftstrafen.

Nachrichten aus dem Netz (52): ... wurde im Viktorianischen Zeitalter geschlagen, verbannt, hingerichtet.

... wurde im Viktorianischen Zeitalter geschlagen, verbannt, hingerichtet.

(Foto: Screenshot: oldbaileyonline.org)

Die "Proceedings" des Old Bailey, jetzt vorbildlich vollständig erfasst unter www.oldbaileyonline.org, wurden von 1674 bis 1913 veröffentlicht - als Abschreckung und zur Unterhaltung des Publikums. 53 Todesstrafen also wurden in jenem Zeitraum von den Jurys für "Sodomie" verhängt. Unter diesen Tatbestand fielen auch Oralverkehr und Sex mit Tieren, in aller Regel aber war damit der Analverkehr zwischen Männern gemeint. Zur Relativierung muss man wissen, dass sehr viele der in London ausgesprochenen Todesurteile in der Praxis nicht vollstreckt wurden. Doch schlimm genug - und noch im Jahre 1895, als die Todesstrafe für die allermeisten Verbrechen abgeschafft war, wurde Oscar Wilde wegen seiner Homosexualität zu zwei Jahren "hard labour" verurteilt.

Auch den Oscar-Wilde-Prozess findet man in den digitalisierten "Proceedings", allerdings nur noch mit knappen, verhehlenden Worten ("acts of gross indecency with certain male persons"). Viktorianische Prüderie. Das war im 17. und frühen 18. Jahrhundert noch ganz anders: Da finden sich die saftigsten, detailliertesten Zeugenaussagen, ob nun jemand das Treiben in den illegalen "molly houses" der Homosexuellen beobachtete, den Versuch, einen toten Säugling in einem Obstkorb zu entsorgen, einen Straßenraub oder gar - Gott bewahre! - die heimliche Abhaltung einer katholischen Messe ("Popish behaviour").

Staatlich unterstützter Sensationsjournalismus

Der veränderte Ton der Prozessberichte hat auch damit zu tun, dass die Gesellschaft in der maßlos gewachsenen Weltstadt London distanzierter und kontrollierter wurde und weniger Toleranz gegenüber körperlicher Gewalt zeigte; die öffentlichen Hinrichtungen, einst ein beliebtes Spektakel, wurden 1868 abgeschafft. Außerdem wurden die "Proceedings" amtlicher und die Gerichtsreportagen zunehmend von den Tageszeitungen übernommen, weswegen man sie auch nach 239 Jahren und 210.000 Prozessen einstellte.

Für ein Buch wie "Überwachen und Strafen" von Michel Foucault musste man noch mühsam die Archive durchforsten; jetzt kann man mit einer Suchmaschine seine Treffer nach Vergehen, Strafmethoden (wie öffentliches Auspeitschen) und Jahreszahlen einschränken und dazu Hintergrundinformationen zur Londoner Verbrechens-, Rechts- und Sozialgeschichte abrufen.

Manche Zeitgenossen mit aufgeklärtem Kopf und zartem Herzen meinen, mit den Säuglingen in der Tiefkühltruhe oder dem Inzestkeller von Amstetten sei ein bisher ungekannter Tiefpunkt nicht nur menschlichen Verhaltens, sondern auch des Boulevardjournalismus erreicht. Ihnen sei empfohlen, sich durch dieses Online-Projekt zu klicken, das von der Open University zusammen mit den Universitäten von Hertfordshire und Sheffield geschaffen wurde. Diese Prozessberichterstattung, teilweise köstlich zu lesen, ist nichts anderes als ein staatlich unterstützter, vom Präventionsgedanken hervorgebrachter Sensationsjournalismus.

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