Nachrichten aus dem Netz:Der Weltgeist zeigt seine Geschöpfe

Die Website Astronaut.io spielt Youtube-Videos ab, die noch kein Mensch gesehen hat. Sie werden nach dem Zufallsprinzip kompiliert, wobei der Zufallsgenerator kein Geringerer als der Weltgeist zu sein scheint.

Von Michael Moorstedt

Die Bevormundung beginnt im Grunde schon, sobald man seine Geräte anschaltet. Die Empfehlungsmaschinen von Facebook, Google, Youtube und Netflix haben schon errechnet, was ihre Nutzer interessieren wird. Und wenn es nicht die Algorithmen sind, dann eben ausgefuchste menschliche Kuratoren, die das Internet unermüdlich nach den heißesten Fundstücken durchsuchen und sie ihren Abonnenten in leicht konsumierbarer Newsletterform darreichen. Weiteres oder gar eigenständiges Suchen: Unnötig.

Eine kleine Website namens Astronaut.io will das nun anders machen. Und zeigt deshalb im Zufallsprinzip Youtube-Videos, die bislang noch niemand angesehen hat. Das ist schon allein deshalb ein hehres Unterfangen, weil die Aufmerksamkeit auf Youtube ähnlich fair verteilt wird wie der globale Wohlstand: Mehr als 90 Prozent aller Aufrufe, gemeinhin Views genannt, werden von nur einem Prozent aller Videos generiert. Beinahe zwei Drittel aller jemals hochgeladenen Videos verharren unter 50 Views, sie könnten genauso gut statisches Rauschen sein.

Ungeklickte Youtube-Videos auf astronaut.io anzuschauen, fühlt sich an wie Voyeurismus

Im Internet ist das Laute, das Schockierende und das Berechnende längst zum Standard geworden. Das heißt noch lange nicht, dass das Alltägliche im Gegenzug auch nur außergewöhnlich oder gar prosaisch wird. Trotzdem gibt es inzwischen eine Reihe von Angeboten, die dem Ungesehenen und Ungehörten und damit auch dem Zusammenhanglosen und dem Zufall huldigen. Die Website Forgotify.com spielt vernachlässigte Lieder aus Spotify-Playlisten, Radio.garden lässt anhand einer Weltkarte in Abertausende obskure Webradiostationen reinhören und Gifpeek.com zeigt in hoher Frequenz jene unzähligen Video-Loops, die auf Twitter so erfolgreich sind.

Viele frühe Nutzer von Astronaut.io haben in der letzten Woche von einer erstaunlichen Faszination der willkürlichen Bilder berichtet. Vielleicht weil die Website zeigt, dass es auch in Zeiten der permanenten viralen Inszenierung und der vollautomatischen Fabrikation von Memen noch ein Internet gibt, in dem noch nicht jede Meinung stromliniengeformt ist und nicht unter jeder Botschaft um Likes, Kommentare und Abonnements gebettelt wird.

Ganz anders läuft das hier ab. Alle paar Momente lädt die Website ein neues Video, gewährt mal fünf, mal zehn Sekunden Einblick in ein anderes Leben. Zeigt einen Augenblick, der für einen anderen Menschen bedeutend war. Es ist beinahe so, als rausche der Weltgeist durch den eigenen Bildschirm, nur dass jemand auf Shuffle gedrückt hat. Die Mutter, die ihrem Kleinkind ein Wiegenlied vorsingt. Die unzähligen Clips von Jugend-Fußballmannschaften, Jubel, Abklatschen und quietschende Turnhallenböden. Der Mann, der in einer gutturalen Sprache seinen Hund lobt, im Hintergrund der tristen Wohnung schimmert ein pompöser Weihnachtsbaum.

Was an diesen Momenten hielten die Menschen für festhaltenswert? Was bewog sie, genau zu diesem Zeitpunkt auf Aufnahme zu drücken? Vielleicht sind es diese Rätsel, die die Website so anziehend machen. Man wüsste gerne, wie es weitergeht. Und auch wenn all diese Videos öffentlich sind, kommt man sich als Betrachter vor wie ein Voyeur. Es sind raue, aufrichtige Porträts von Menschen, die verletzbar wirken. Entweder weil sie glauben, dass niemand zusehen wird, oder gerade weil sie sich nichts sehnlicher wünschen und es bislang noch niemand tat.

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