Nachrichten aus dem Netz:Der Schmutz hat ein begeistertes Publikum

Was treibt Menschen dazu, Gewalttaten zu begehen und sie auf sozialen Medien zu dokumentieren? Facebook hat gerade 3000 neue Mitarbeiter engagiert, die solche Videos so schnell wie möglich aufspüren und löschen.

Von Michael Moorstedt

Es gibt viele Dinge, die man im Internet nicht mehr versteht. Zum großen Teil ist das harmloser Nonsens. Doch manchmal wird es ernst: In den letzten Wochen und Monaten waren immer wieder Videos von Gewalttaten auf Facebook und anderen Internet-Plattformen veröffentlicht worden. Sie zeigten Bilder, so schlimm, dass man sie hier weder beschreiben kann noch will. Folter, Vergewaltigungen und auch Morde waren darunter.

Neben universaler Fassungslosigkeit stellt sich die Frage nach dem Warum. Was treibt Menschen dazu, ihre Gewaltbereitschaft auf sozialen Medien zu dokumentieren? Geht es wirklich nur um Aufmerksamkeit? Tatsächlich haben sich mehrere Täter in ihren Geständnissen darüber beklagt, dass ihre Gewaltvideos nicht genügend Aufmerksamkeit erzeugt hätten.

Die Idee des Verbrechers als Medienpersönlichkeit hat in Wirklichkeit und Fiktion von Billy the Kid über Bonnie und Clyde bis hin zu Oliver Stones "Natural Born Killers" Beispiele. Wieso sollte also etwas, das im Boulevard schon lange funktioniert, nicht durch soziale Medien um ein Vielfaches verstärkt nicht weiter funktionieren?

Teenager belästigen Rentner? In eine Live-Chat tauschen sich Zuschauer darüber aus

3000 neue Mitarbeiter hat Facebook letztens angestellt, um diesem Problem Herr zu werden. Und es ist ja nicht so, als stünden diese Art von Videos tagelang online. Meist werden sie innerhalb von Stunden gelöscht. Nur haben bis dahin schon hunderttausende Menschen die Taten gesehen, haben sie im Zweifelsfall kopiert und weiterverbreitet. Eine Lösung soll Künstliche-Intelligenz-Software sein: Rund um das Problem auf Youtube, Twitter und Facebook hat sich bereits ein ganzes Ökosystem von Start-Ups mit naheliegenden Namen wie Sightengine und Picpurify gebildet, die sich allein der automatisierten Suche nach unangemessenen Bild- und Videoinhalten widmen.

Wie um die Dystopie noch zu verstärken, tritt nun eine App namens Citizen auf die Bühne. Das Smartphone-Programm, das momentan nur in New York City funktioniert, dient dem Live-Streaming von Verbrechen. Mitarbeiter der App hören die Funkfrequenzen der Polizei ab und posten die Vorfälle dann auf einer für alle Nutzer einsehbaren Karte. "Teenager belästigen Rentner an Bahnhof" sieht man dort oder "Dachstuhl in Brand" oder noch viel Schlimmeres.

Die offiziellen Werbevideos zeigen vor allem, wie unbescholtene Bürger die Gegenden, in denen gerade ein Verbrechen geschieht, besser meiden können. Aber warum gibt es dann eine Funktion namens "Stories", bei der die Nutzer dazu angehalten sind, selbst Verbrechen zu filmen? Ganz so wie man es von Social-Media-Apps gewohnt ist, sieht der Nutzer die Zahl der Videoaufrufe und kann, so ihm denn danach ist, mit einem angemessenen Empörungs-Emoji reagieren. Außerdem bietet Citizen auch einen Live-Chat, in dem sich die Nutzer über das Gezeigte austauschen können. Geht es also um Sicherheit und aufgeklärte Bürger oder doch vor allem um Denunziantentum und Gafferei?

Ursprünglich tauchte Citizen unter anderem Namen bereits im vergangenen Herbst in Apples App-Store auf und wurde nach einigen Kontroversen wieder aus dem Programm genommen. Nun ist sie zurück, ausgestattet mit reichlich Geld von Business Angels. Kein Wunder, dass es schon die ersten Nachahmer gibt, unter anderem eine ähnliche App aus Deutschland. Dort ist nicht New York im Visier. Sondern Darmstadt.

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