Nachrichten aus dem Netz (63):Das Ende des Massengeschmacks

Ist alles, was nicht bei Wal-Mart im CD-Regal steht, schon ein Nischenprodukt? Wissenschaftler streiten um die Grenzen des Massenmarkts.

N. Hoffmann

Verführerisch klang die Verheißung eines Zeitalters, in dem nicht mehr nur der kleinste gemeinsame Nenner die Strategien der Kulturindustrie prägen sollte. Die Theorie des "Long Tail", die Chris Anderson, Chefredakteur des US-Magazins Wired, vor vier Jahren aufstellte, wurde in kurzer Zeit zu einem Glaubensgrundsatz vor allem des kreativen Teils der Netzökonomie (www.wired.com/wired/archive/12.10/tail.html).

Nachrichten aus dem Netz (63): Ist alles, was es nicht bei Wal-Mart gibt, ein Nischenprodukt?

Ist alles, was es nicht bei Wal-Mart gibt, ein Nischenprodukt?

(Foto: Foto: AFP)

Massenprodukte verkaufen sich auch online besser

Anderson erklärte de facto das zum BWL-Grundwissen gehörenden Prinzip des Ökonomen Vilfredo Pareto für obsolet, dass 80 Prozent des Umsatzes mit nur 20 Prozent der Produkte gemacht werden.

Auf dem Graph der erst steil abfallenden und dann flach auslaufenden "Pareto-Kurve" nehme, so Anderson, der erste Abschnitt, der "Big Head", an Bedeutung ab, während das schmale Ende, der "Long Tail" sich gegen unendlich verlängere und einen immer größeren Anteil erhalte.

Die These wird kräftig gerupft

"Nischenprodukte statt Massenmarkt" lautete die griffige Zusammenfassung im Untertitel der deutschen Übersetzung von Andersons Buch. Durch das Internet (etwa die Empfehlungen beim Online-Buchhändler Amazon: "Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, kauften auch ...") fänden auch vermeintliche Ladenhüter neue Interessenten.

Weil die digitale Ökonomie zudem unabhängiger von den Beschränkungen physischer Lagerkapazitäten sei, werde es genauso profitabel, von vielen CDs oder Büchern jeweils nur wenige Exemplare zu verkaufen.

Doch nun wird die Long-Tail-These, die Lob selbst von Google-Gründer Eric Schmidt erntete, heftig gerupft. Die Harvard-Ökonomin Anita Elberse, die dem Wired-Mann bei seinen Recherchen half, hat in der Harvard Business Review einen Artikel veröffentlicht (harvardbusinessonline.hbsp.harvard.edu); er erscheint unter dem Titel "Das Märchen vom Long Tail" auch im deutschsprachigen Harvard Businessmanager.

Die Verbraucher kaufen wie immer

Elberse analysiert darin Branchendaten: Demnach nimmt die Bedeutung von Hits und Blockbustern in der Online-Wirtschaft nicht ab, sondern legt im Vergleich zur traditionellen Ökonomie sogar kräftig zu. Der Schwanz dagegen werde zwar länger, aber auch immer flacher: 91 Prozent der digitalen Musiktitel, die 2007 in den USA verkauft wurden, seien weniger als hundert Mal und immerhin 24 Prozent nur ein einziges Mal abgesetzt worden. "Was Verbraucher über das Internet kaufen," so Elberses, "entspricht größtenteils dem, was sie schon immer gekauft haben."

"Werft die alten Denkmuster noch nicht ganz weg", schrieb im Wall Street Journal beifällig der Kolumnist Lee Gomes und spöttelte über die Manager im Silicon Valley, die in den vergangenen Jahren die Long-Tail-Theorie zur Grundlage jedweder Businessplanung gemacht hätten (online.wsj.com).

In einer Replik auf Elberse räumt Chris Anderson ein, ihre Befunde seien überraschend, "nicht zuletzt für mich" (conversationstarter.hbsp.com/2008/06/challenging_the_l ong_tail.html). Aber in der Frage, was noch zum Big Head und was schon zum Long Tail gehöre, liege man völlig auseinander. Für ihn sei alles jenseits der 10.000 Songtitel auf den CDs, die eine Wal-Mart-Filiale vorhalte, bereits Nischenprodukt. Das, gab Elberse zurück, sei dann doch eine ziemlich willkürliche Grenzziehung.

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