"Nach der Stille" im Kino:"Es war, als würde ich ein Buch schließen"

Mit übermenschlicher Kraft zu einem Neuanfang: Eine israelische Witwe trifft die Eltern des palästinensischen Selbstmordattentäters, der ihren Mann tötete. Doch anstatt auf Rache ist sie auf etwas anderes aus. Die Regisseurinnen Stephanie Bürger und Jule Ott schaffen ein Film über Trauer und Versöhnung.

Karin Steinberger

Sie sitzt schon fast, zieht den Stuhl dann doch noch eine Winzigkeit nach links, setzt sich hin, steht wieder auf, schaut zum Eingang, setzt sich auf einen anderen Stuhl, an einen anderen Tisch, dreht und ruckelt. Das alles macht sie ohne Tamtam, die meisten merken nichts davon. Dann endlich gibt sie Ruhe. Und lacht leise über ihre eigene Paranoia.

"Nach der Stille" im Kino: Szene aus der Dokumentation "Nach der Stille"

Szene aus der Dokumentation "Nach der Stille"

(Foto: Bukera Pictures)

Sie kann es nicht lassen. Wenn die in Frankreich geborene Israelin Yaël Armanet-Chernobroda in Haifa ausgeht, muss sie im Restaurant immer den Fluchtweg im Blick haben. Es ist wie ein Zwang. Sie weiß, es würde nichts helfen. Wenn wirklich einer kommt, Bomben um den Körper geschnallt, hat sie den Ausgang im Blick. Und dann? "Ich könnte ihm noch hallo sagen", sagt sie.

So vieles verändert sich, wenn einem der Ehemann aus dem Leben gesprengt wird: "Dov, pass auf dich auf", sagte sie ihm noch, bevor sie in den Urlaub fuhr, weil sie dem Irrsinn in diesem Land für eine Weile entkommen wollte. Er blieb, ging zum Mittagessen - und kam nicht mehr zurück. Haifa, Matza Restaurant, es war der 31. März 2002, mitten in der Zweiten Intifada, als ein 24-jähriger Palästinenser ihr den Mann nahm. Dov Chernobroda, 67 Jahre alt. Es war nur ein Splitter, in den Hinterkopf. Er war sofort tot.

Mehr als neun Jahre ist das jetzt her, aber Yaël Armanet-Chernobroda kämpft noch immer. Ihr Händedruck ist wie ein Streicheln. Jahrelang konnte sie den Namen des Attentäters nicht aussprechen, wollte es gar nicht. Sie nannte ihn "Terrorist", es hatte etwas beruhigend Unnahbares. Der Terrorist. Jetzt kennt sie seinen Namen: Shadi Tobassi. Er war so jung, fast noch ein Kind.

Manchmal, wenn sie auf ihrem Balkon in Haifa sitzt und die Lichter an der Küste flimmern, versteht Yaël Armanet-Chernobroda selbst nicht mehr, woher sie den Mut genommen hat, diesen Film zu machen, woher sie die Kraft nahm, an diesen Ort zu fahren, in die Stadt so vieler Selbstmordattentäter: Dschenin.

Auch Shadi Tobassi kam aus Dschenin. Aus dieser Stadt, deren Namen Yaël Armanet-Chernobroda jahrelang verdrängt hatte, sie wollte nicht einmal wissen, wo genau sie liegt, im Süden, im Westen. Was spielte das für eine Rolle. Es schien absurd, dass Dschenin ein ganz normaler arabischer Ort sein sollte, eine Stadt, in der ganz normale Menschen leben, nicht Terroristen. 32 Kilometer sind es von Haifa nach Dschenin, von Israel ins Westjordanland. Ihr schien die Antarktis näher.

Und jetzt saß sie im Kino und sah sich selbst, wie sie zusammen mit einer Frau durch Dschenin geht. Die Witwe des Terroropfers und die Mutter des Attentäters, Hand in Hand. Während des Filmfests in München saß Yaël Armanet-Chernobroda in einem Kinosaal und sah sich ihren Film an, zum zehnten Mal, zum elften Mal, wer weiß das schon noch. Sie hat ihn verinnerlicht, eingesogen, sie hat sich an ihm abgearbeitet, auch das.

Im Schwarz der Anfangsszene hörte sie ihre Stimme, wie sie mit der Mutter des Mörders ihres Mannes spricht. "Vielleicht beginnen wir heute ein neues Kapitel." - "Vielleicht, so Gott will." - "Sie sind eine Mutter." - "Ja, ich bin seine Mutter. Was hätten wir tun können? Wir haben ihn nicht geschickt. Er war 24. Er hat gesagt, er geht zur Arbeit."

So fängt der Film "Nach der Stille" an, der diesen Donnerstag in Deutschland anläuft. Es ist der Film über eine vorsichtige Annäherung, aber auch das Dokument einer langsamen Heilung. Ausgerechnet jetzt, wo sich die Dinge in der Realität immer mehr zuspitzen.

Mut zu träumen

Auf die Idee, nach Dschenin zu fahren, kam Yaël Armanet-Chernobroda, als sie den Film "Das Herz von Jenin" von dem deutschen Dokumentarfilmer Marcus Vetter sah, der die Geschichte von Ismail Khatib erzählt, dessen elfjähriger Sohn Ahmed 2005 im Flüchtlingslager Dschenin von der israelischen Armee erschossen wurde. Es ist die Geschichte eines Palästinensers, der eine Reise zu den Kindern unternimmt, die mit den Organen seines toten Sohns weiterleben. Israelische Kinder. Feindeskinder. Als Yaël Armanet-Chernobroda den Film 2008 sah, wusste sie, dass es ihrem Mann gefallen hätte, darauf auf seine Art zu antworten.

Er war Architekt und Friedensaktivist, sein ganzes Leben lang hatte er für eine Verständigung zwischen Juden und Arabern gekämpft. "Er hatte immer den Mut zu träumen", sagt Yaël Armanet-Chernobroda. Also fing auch sie an zu träumen, von einer Geste der Versöhnung. Nur diesmal in die andere Richtung - von Israel aus ins Westjordanland. Es war auch der Versuch, wieder Ordnung in ihr Leben zu bringen. Aber sie kannte niemanden, der schon einmal in Dschenin gewesen war - außer diesen deutschen Filmemacher. Also schrieb sie ihm einen Brief und fragte, ob er sich vorstellen könne, einen Film über sie und die Familie des Attentäters zu machen.

Vielleicht hätten die meisten gesagt: Niemals, das wird nicht funktionieren, nicht in diesem ausweglosen Israel-Palästina-Konflikt. Aber Vetter war gerade dabei, ein Kino in Dschenin wieder aufzubauen. Er kennt das, wenn die anderen sagen: lass es. Allerdings war er gerade mitten in einem eigenen Projekt, und er wusste, es wird seine Zeit brauchen. Also fragte er die zwei jungen Filmemacherinnen Stephanie Bürger und Jule Ott, ob sie sich für das Thema interessieren. So fingen die Dreharbeiten an, mit einer Israelin, die von Versöhnung träumte, einem Filmemacher, der keine Grenzen kennt und zwei Regisseurinnen, die noch nie einen Film gemacht hatten.

Monatelang dauerte die Annäherung an die Familie Tobassi, mal kamen die Regisseurinnen mit Kamera in das Haus der Familie, dann wieder ohne, mal kamen sie mit Dolmetscher, mal ohne. Sie rannten an gegen Mauern, sie stellten Fragen, die erst mal Türen schlossen, sie diskutierten mit ihrer palästinensischen Mitregisseurin Manal Abdallah darüber, ob die palästinensische Seite in diesem Film auch ausreichend zu Wort kommen würde. Shadi Tobassis Attentat war das letzte vor der israelischen Invasion in Dschenin, bei der 54 Palästinenser starben. Würde der Film auch das erzählen?

Und zu Hause in Haifa kämpfte Yaël Armanet-Chernobroda. Man sieht im Film, wie sie mit sich ringt, wie sie das erste Mal mit Zakaria Tobassi, dem Vater, telefoniert, wie sie sich selbst fragt, ob sie das Richtige tut, ob sie es ertragen wird, in dem Haus zu stehen, aus dem der Junge an jenem 31. März losfuhr, Richtung Haifa. Heute sagt sie, wenn sie an die Tränen des Vaters denkt: "Ich wusste nicht, jetzt weiß ich."

Am 8. April 2010 fuhr Yaël Armanet-Chernobroda, die Witwe des Friedensaktivisten Dov Chernobroda, den Weg, den sein Mörder 2002 genommen hatte, nur andersherum. 32 Kilometer, die Mauern, die Checkpoints. Begleitet wurde sie von einem Kamerateam, ihrer besten Freundin und dem ältesten Sohn ihres Ehemannes. Sie alle hatten ein Dokument unterschrieben, das die israelische Armee und die israelische Regierung von jeder Verantwortung für diesen Besuch freisprach. Und dann stand sie im Haus des Selbstmordattentäters, die Eltern hatten das Bild ihres Sohnes von der Wand genommen. Das war ihre einzige Bedingung, sie hätte es nicht ertragen, seine Augen zu sehen. Sie kam, nahm die Hand seiner Mutter in ihre Hand und ließ sie nicht mehr los. Mum sagte sie zu ihr - Mutter.

Es war, als würde ich ein Buch schließen, und ein anderes öffnen", sagt Yaël Armanet-Chernobroda. Es gibt Stellen im Film, bei denen sie die Augen schließen muss, die Bilder von Dovs Beerdigung, wie sie da steht, im Schock, wie ein Eiswürfel, wie sie den Regisseurinnen erzählt von ihrer letzten Verabschiedung. Und sie weiß, dass eine Welle über sie hereinbrechen kann, wenn der Film im Oktober das erste Mal in Israel gezeigt wird. Es wird Kritik geben, vielleicht Hass. Aber sie weiß, dass es gut ist. Der Film ist ihr Leben. "Und jetzt hat der Film sein Leben ohne uns begonnen", sagt sie und lächelt.

NACH DER STILLE, D 2011 - Regie und Buch: Stephanie Bürger, Jule Ott. Kamera: Mareike Müller. Verleih: Bukera Pictures. 82 Minuten.

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