Nach dem Mauerfall:Als die Bilder greller wurden

Deutschlands Kodak Moment: Silvester 1989

Nach dem Mauerfall begann eine aufregende Zeit für DDR und BRD.

(Foto: obs)

Am Nullpunkt: Das knappe Jahr zwischen Mauerfall und Beitritt war nicht nur das vielleicht beste Jahr der DDR, sondern auch das spannendste der Bundesrepublik.

Von Peter Richter

Schon drei Wochen ohne Bilder von Trabis, Plattenbauten, jubelnden Menschen mit Dauerwellen: Tut gut, wenn man zur Abwechslung mal wieder nach vorne schauen darf, oder? 25 Jahre Mauerfall hätten wir geschafft, wie man so sagt, abgefeiert, erledigt. Geburtstage von schwerhörigen Großtanten können sich ähnlich befreiend anfühlen, wenn sie erst einmal einigermaßen unfallfrei über die Bühne gebracht worden sind. Dieses klitzekleine Gefühl von Pflichtübung? Diese Spur von Lieblosigkeit? Die Bilder von Leuten, die mit ihren schwarz-rot-goldenen Fähnchen verloren auf öden Betonplätzen herumstehen, so dass man denkt, wenn die Fähnchen noch Hammer und Zirkel in der Mitte hätten, dann könnte das eines dieser bösen Harald-Hauswald-Fotos aus DDR-Zeiten sein. . . ?

Es hat niemand gesagt, dass Jubiläen zu feiern einfach wäre, ganz besonders nicht in Deutschland. Der Tag der Deutschen Einheit, bei dem alle Bundesländer feierlich ihre Bratwurstbuden irgendwo auf einen Haufen schieben, ist traditionell aber noch trostloser. Das Problem ist nämlich: Das Beste liegt damit hinter uns. Dieser spontane Ausbruch von erst Leuten und dann Freude am Abend jenes 9. November 1989 ist das, was in der deutschen Geschichte dem Öffnen einer gut geschüttelten Champagnerflasche am nächsten kam. Und darum wird beim Happy End - dies schrieb Kurt Tucholsky schon ein paar Jahrzehnte vorher - "im Film jewöhnlich abjeblendt".

Nach dem Happy-End vom 9. November klingelten die Wecker

Exakt so hat man das bisher gehalten. Mauerfall = Ende der Geschichte, und zwar nicht nur im Fukuyama'schen Sinne, sondern auch ganz buchstäblich: An der Stelle wird vom Erzähler tief Luft geholt, und dann geht es woanders weiter. Bei der Währungsunion beispielsweise. Oder bei der Abwicklung der DDR-Industrie. Oder bei den brennenden Asylbewerberheimen von Rostock und Hoyerswerda. Es ist, als würde diese historische Atempause schon deshalb eingelegt, um die eine Geschichte nicht mit den anderen, schmerzhafteren Geschichten zu kontaminieren. Das ist verständlich. Die Frage ist nur, ob es auch richtig ist.

Die Frage ist also die, ob man nicht jetzt eigentlich erst so richtig anfangen müsste mit dem Zurückschauen. Ob man, statt sich am Abend des 9. November 1989 schaumweinselig aus der Geschichte auszublenden, nicht vielmehr den 10. November umso schärfer in den Blick nehmen müsste. Denn auch nach einer historischen Nacht ging ja die Sonne wieder auf, auch nach dem Epochenbruch klingelten morgens die Wecker, und auch nach dem Ende der Geschichte ging das Leben weiter, und die Leute mussten wieder zur Arbeit fahren. Noch hatten sie ja welche.

Man würde dann unter anderem zu sehen bekommen, dass gerade die Helden der Geschichte gar nicht so glücklich waren über deren Ausgang; dass die Galionsfiguren des Aufstands gegen das SED-Regime den Mauerfall oft sogar eher als ungelegen und störend beklagten. Man würde etliches zu sehen und zu hören bekommen, das die Geschichte ein bisschen weniger einfach zu erzählen macht. Aber vielleicht ist das notwendig, bevor bestimmte Arten, die Geschichte zu erzählen, sich zur Geschichte an sich verfestigen. Der Schnitt ist ein Mittel der Dramaturgie und der Hygiene, er dient Interessen. Nicht, dass die nicht verständlich wären.

Viele Amerikaner haben sich zum Beispiel angewöhnt, den Mauerfall Ronald Reagan zuzuschreiben: "Mr. Gorbachev, tear down this wall!", 12.6.1987, und siehe, zwei Jahre später tat Gorbatschow wie ihm befohlen. Es passt auf diese Weise gut in amerikanische Geschichtsbücher, und es erspart die Auseinandersetzung mit stammelnden SED-Bonzen und anderen unwilligen Helden. Helmut Kohl argumentiert sogar ganz ähnlich, wenn er behauptet, Gorbatschow habe den Mauerfall bewirkt, nicht kettenrauchende Bürgerrechtler. Wer sich an die Namen Reagan und Gorbatschow hält (und David "Looking for Freedom" Hasselhoff würde hier vermutlich noch seinen eigenen einfügen), der muss den Mantel der Geschichte nicht mit Bärbel Bohley oder Zonen-Gaby teilen. Ein bisschen undankbar ist das zumindest letzterer gegenüber, denn die hat ihn, Kohl, immerhin dann noch neun lange Jahre an der Macht gehalten.

Wann exakt war Bärbel Bohley, das prominenteste Gesicht des Neuen Forums, eigentlich zu einer bedeutungslosen Figur von gestern geworden? Und seit wann war Zonen-Gaby überhaupt in der Welt, so als Synonym für den Jeansjacken-Trottel aus dem Osten, der nach Bananen geifert und Gurken angedreht bekommt.

Antwort: seit exakt jetzt vor 25 Jahren. Seit jenen dunklen Tagen im Schatten des Mauerfalls. Seit dem, was Tucholsky in seinem hübschen Gedicht über das Happy End das "Danach" genannt hat, beziehungsweise das "Na, und denn?"

Bürgerrechtler vs. Jammerossi

An den Kiosken lag damals die Novemberausgabe des Satiremagazins Titanic mit dieser blonden Dauerwellen-Frau und der Gurke, "Zonen-Gaby (17) im Glück (BRD)." Das Modell war, wie man weiß, in Wahrheit eine kaufmännische Angestellte aus Worms, ihr Foto wurde trotzdem zum Inbild der Ostdeutschen, schon weil die sich darin selber erkannten, oder jedenfalls diejenigen ihrer Landsleute, für die sie sich schämten. Niemandem waren diese Stonewashed-Jeans und Minipli-Locken ja peinlicher als denen, die sie von hinten her in den Westen rennen sahen. Währenddessen flehten die Leute vom Neuen Forum, flehten Christa Wolf und flehten Stefan Heym in einem Aufruf mit dem Titel "Für unser Land", die Revolution jetzt nicht aus der Hand zu geben, nur um ein paar Woolworth-Tüten mehr greifen zu können. Aber da zeigten die echten Gabys aus der Zone mit dem Finger nur kurz stirnwärts in die Dauerwelle.

Denn dies ist der Moment, in dem der hoch und freiheitlich gesonnene Bürgerrechtler praktisch bis zur Präsidentenwahl Joachim Gaucks seitlich von der Bühne tritt und dem hässlichen Jammer-Ossi Platz macht, der nicht mit Messer und Gabel essen kann (Kohl über Merkel) und dem Land, das sich schon fast selbst für Frankreich oder wenigstens Italien hielt, einen deutschtümelnden Rechtsruck beschert, der ihm bis heute in den Knochen steckt. Aus den Ostdeutschen, die mit Kerzen in der Hand eine Staatsmacht über den Haufen rennen, werden Ossis, die mit Knüppeln in der Hand vor den Asylbewerberheimen aufmarschieren.

Wenn aber aus einem geradezu antikisch durch seine res publica schreitenden Souverän in nur einem Filmschnitt ein keulenschwingender Barbar wird, dann wird man sich diesen Schnitt noch einmal genauer ansehen müssen. Könnte sein, dass er beiderseits Wahrheiten konstruiert, die ohne ihn nicht so ganz standfest wären. Könnte sein, dass man da in den Demonstrationszügen auch ein paar Leute zu Gesicht bekommen würde, die in der DDR als Mob bezeichnet wurden, während des Umsturzes als treibende Kraft, und dann im vereinten Deutschland wiederum als Mob. Ohne dass die sich groß von der Stelle bewegt hätten, ideologisch, äußerlich und auch sonst. Man würde dann diskutieren müssen, wie man diese wenig erfreulichen Leute in die Geschichte integriert bekommt, an deren Happy Ending vielleicht eher noch gearbeitet werden muss.

Man würde auf der anderen Seite aber auch noch einmal betrachten können, wie nach dem Mauerfall die Neonazikader zum Aufbau der Strukturen aus Westdeutschland eingependelt kamen wie sonst nur die Leihbeamten und die Herren von der Treuhand. Es würden auch, nur zum Beispiel, noch einmal die Plakate auftauchen, auf denen CDU-Wähler im niedersächsischen Landtagswahlkampf von Helmut Kohl fordern, dass als Nächstes auch die Oder-Neiße-Grenze fällt. Man könnte die Ängste vor dem Rechtsruck noch einmal besichtigen, die Ängste in der DDR vor dem Rechtsruck aus dem Westen. Und das wäre vielleicht schon deshalb nicht ganz uninteressant, weil wenige Jahre später ja die Fremdenfeindlichkeit als beinahe schon genetisches Spezialproblem des Ostens galt und "die alte BRD" zum antifaschistischen Musterstaat zurechterinnert wurde.

Wer die Scheinwerfer in das Dunkel nach dem Mauerfall richtet, würde auch beobachten können, wie sich umgekehrt "der Westdeutsche" wie mit einem dieser frühen Morphing-Programme für den Apple MacIntosh aus einem irgendwie seltsam geföhnten, aber doch überwiegend netten und hilfsbereiten Nachbarn in einen schmerbäuchigen Brummer verwandelt, der das Glück des Marshallplanes mit eigenem Verdienst verwechselt und selbstgerechten Käse über den Unrechtsstaat und das verkorkste Leben darin von sich gibt.

Buntwerdung der Welt als Teil des Happy Ends

Es geht hier nicht zuletzt ja auch um den Moment, in dem die Erinnerung farbig wird. Bis zum Mauerfall ist die DDR schwarz-weiß, das liegt ganz einfach am Fotomaterial, danach wird sie bunt, sie findet dann nicht mehr auf Filmen von Orwo statt, sondern auf solchen von Agfa oder Kodak. Vorher war sie grau, das lag an den Abgasen, den Kohleöfen, aber auch an einem Putz, der sich hier länger erhalten hatte als im Westen, danach wurde sie grell, und das wiederum lag an der Werbung, am Coca-Cola-Schild über "Karin's Futterkrippe", an der Zigarettenreklame für "Golden American" (eine Billigmarke, die in Bremen nur für den Osten hergestellt wurde), an den Fertiggerichten, die jetzt in die Regale der neuerdings sogenannten Supermärkte gestapelt wurden. Es lag an allem, wovor wohlhabendere Westdeutsche später in den Läden von Manufactum Zuflucht suchen würden, welche wiederum gelegentlich sehr an den Einzelhandel der DDR erinnern können.

Die Geschichte, so wie sie einem immer erzählt wird, verlangt, diese Buntwerdung der Welt als Teil des Happy Ends zu sehen. Es hat immerhin auch genug gekostet, die Plattenbaugebiete des Ostens mit falschem Fachwerk zu bekleben und die bröckelnden Altbauviertel einzufärben wie eine Kinderkrebsstation. Aber darüber nicht murren dürfen, weil das undankbar wäre und die schöne Erfolgsgeschichte ruinieren würde und im Übrigen nun alles auch ohnehin nicht mehr zu ändern ist: Das wäre irgendwie genau die falscheste Lektion, die man aus der Geschichte ziehen kann.

Alles kann jederzeit ganz anders kommen. Und es gibt immer Alternativen. Wahrscheinlich behauptet Angela Merkel, weil sie das aus dieser Zeit ganz genau weiß, so beharrlich das Gegenteil.

Das knappe Jahr zwischen Mauerfall und Beitritt war vielleicht nicht nur das beste Jahr der DDR, sondern auch das spannendste der Bundesrepublik. Es ist der Nullpunkt, von dem aus man sich noch einmal anschauen kann, wie alles Mögliche auch anders hätte laufen können. Es ist das Jahr, in dem eine Freiheit herrscht, die nur bedingt etwas mit dem Kampfbegriff aus den Parteiprogrammen von FDP und CDU zu tun hat. Es ist das Jahr, in dem ein beträchtlicher Teil Deutschlands sich im Zustand einer echten Anarchie befindet. Mit allen Herrlichkeiten, die so etwas mit sich bringt. Und mit allem Horror. Wer da nicht noch einmal genauer hinschauen will, der interessiert sich auch für seine Gegenwart nicht.

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