Süddeutsche Zeitung

Nabokovs "Eigensinnige Ansichten":Die Mondkarte sticht

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Unwissen und Einbildungskraft, Ich und Nicht-Ich: Neue Nachrichten aus der Nabokov-Welt.

Von Gustav Seibt

Was darf ein moderner Romancier eigentlich erfinden? Außerhalb der reinen Science-Fiction oder der Fantasy wohl doch nur das Wahrscheinliche oder noch ein wenig präziser formuliert: das Mögliche. Auch die namenlose, erfundene Großstadt eines Romans muss so viele Züge mit den bekannten realen Städten dieser Welt teilen, dass die Einbildungskraft des Lesers nicht überfordert ist.

Vladimir Nabokov, dieser mit szientifischer Präzision arbeitende Erzähler, war stolz darauf, in seinem späten Roman "Ada" zum ersten Mal "wissenschaftlich mögliche Schmetterlinge" erfunden zu haben (allerdings nur Arten, nicht Gattungen, "das ist das Hübsche daran").

Das Hübsche, aber auch ein wenig Verstörende für uns Leser besteht freilich darin, dass 99 Prozent von uns sich dieses Umstands wohl gar nicht bewusst werden. Wir nehmen die von Nabokov kreierten Arten für bare Münze und müssten erst mühsam blättern, um ihre reale Nichtexistenz festzustellen.

Die Unwissenheit des Lesers

Er nutze dabei ein wenig die Unwissenheit des Lesers in Sachen Schmetterlingen aus, erklärte Nabokov voller Behagen, "denn hätten Sie für die Schlossherren des Buches einen neuen Typ Hund oder Katze erfunden, hätte der Betrug den Leser lediglich verärgert, der jedes Mal, wenn Ada das Tier auf den Arm nimmt, sich einen kleinen mythologischen Vierbeiner vorstellen müsste." Doch "immerhin habe ich einen Baum erfunden, das ist doch schon etwas".

Unwissenheit als Voraussetzung für Erfindungen, die Parallelwelt entlegenen Expertenwissens als Zufluchtsraum für poetische Einbildung: Dieses Theorem sagt mehr als tausend Seiten über die zwei oder drei Kulturen, wie es mit dem Schicksal von Dichtung und Wissenschaft bestellt ist.

Unbekannte mythologische Vierbeiner, einäugige Menschen oder Menschen mit Vogelköpfen waren so wahrscheinlich wie Nabokovs ausgedachte Schmetterlinge, solange die Erdkarten noch weiße Flecken mit der Inschrift "hic sunt leones" aufwiesen. Ist also die Poesie aus der Welt verschwunden, seit wir so viel von ihr wissen?

Der neue, von Dieter E. Zimmer wiederum mit bewundernswürdiger Akribie betreute Band der Nabokov-Werkausgabe enthält eine Nachlese von Interviews und literarischen Essays. Es sind Nebenwerke, viele anlassgebunden und zuweilen durchaus von geringerem Gewicht. Die Interviews, fast durchweg nach dem Nabokovschen System erstellt - vorher eingereichte Fragen, werden von Karteikarten gravitätisch abgelesen, mal vor Kameras, mal nur für den Stift des Reporters -, sind weniger geschliffen als die im Band "Deutliche Worte" versammelten Stücke.

Offenherzigkeit gegen schimmernde Rätsel

Im Großen erfährt der Nabokovien wenig, was ihm nicht schon bewusst gewesen wäre. Doch wird er an einigen Stellen durch eine Offenherzigkeit belohnt, die Grundmotive dieses gern in schimmernden Rätseln sprechenden Autors einfacher zur Geltung bringt als gewohnt.

Traurig wäre es ja um eine Literatur bestellt, der für die Entfaltung ihrer Erfindungskraft nur Randgebiete des Expertenwissens wie die Schmetterlingskunde verblieben. Nabokov hasste große Ideen, engagierte Literatur, sozialen Realismus, die vorgestanzte Kommunikation, das ist bekannt.

Mit bösartigem Sarkasmus mustert er eine in der Tat ungewöhnlich schwache Erzählung Thomas Manns durch ("Das Eisenbahnunglück" - nur die "Schwere Stunde" dürfte einen ähnlichen Tiefpunkt im Werk dieses Autors darstellen), um sie als Anhäufung trivialer Klischees zu entlarven. Ideologie besteht geradezu im Klischee, denn aus der vorgestanzten Poesie lugt die verlogene soziale Weltanschauung, so wenn das arme Weiblein vom Beginn nach dem Eisenbahnmalheur in der Ersten Klasse landet und nun neben einem schnarrenden adeligen Offizier Platz nehmen darf.

Was Nabokov dieser Art von Literatur - zum Beispiel auch dem sowjetischen Roman, dessen Langeweile er mit steinerweichender Komik vorführt - so übel nimmt, ist, dass sie die Wunder dieses Jahrhunderts nicht sieht, "die kleinen Dinge - die Lässigkeit der Männerkleidung, das Badezimmer, das den widerlichen Waschtisch ablöst, die großen Dinge, wie die herrliche Freiheit des Denkens ins unserem doppelten Okzident", oder auch den Mond, dessen Eroberung durch den Menschen Nabokov mit klopfendem Herzen am Fernsehschirm verfolgte. Hier ist die eigentliche, sich immer erneuernde Schmetterlingswelt seiner Kunst, und sie liegt vor aller Augen, auch der ungelehrtesten.

Das glückhaft gesteigerte Wirklichkeitsgefühl der Nabokovschen Romane kommt aus der Empfindung der Unwahrscheinlichkeit von Wirklichkeit, also dem Bewusstsein. Die Schmetterlinge seiner Worte schwirren immer wieder gegen die unsichtbare Glaswand, die Ich von Nicht-Ich trennt.

Was es mit dieser Trennung, die für Nabokovs Denken grundlegend ist, auf sich hat, erläutern die gewichtigsten Abhandlungen dieses Bandes auf überraschende und anschauliche Weise. Sie gelten dem Theater, einer Kunst, die in Nabokovs Schaffen einen untergeordneten Rang einnimmt, an der er aber als Zuschauer leidenschaftlich Anteil nahm.

Den Witz dieser Kunstform beschreibt Nabokov als Grenze, als strikte Scheidung zwischen Bühne und Zuschauern: Diese haben keinerlei Einfluss aufs Bühnengeschehen, doch umgekehrt vermag die unerreichbare Handlung uns Zuschauer auf heftigste zu bewegen. Ich und Nicht-Ich oder Ich und Welt erscheinen diesem Dichter also wie Zuschauer und Bühne: Alle Wirklichkeit ist zum Greifen nah, doch gleichzeitig vollkommen unerreichbar. Diese Weltsicht ist mehr als ästhetisch, sie ist erkenntnistheoretisch.

Vladimir Nabokov Eigensinnige Ansichten Herausgegeben von Dieter E. Zimmer. Rowohlt Verlag, Reinbek 2004. 655 Seiten, 38 Euro.

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Quelle:
SZ-Literatur vom 5.10.2004
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