Mythos Woodstock:Ein gigantischer Kindergarten

Freie Liebe, Suhlen im Dreck, Musik für ein ganzes Leben: Vor 40 Jahren wurden drei Tage zum Lebensgefühl, ein Festival zur Heimat.

Willi Winkler

Im September 1969 stand ein Angeklagter vor Gericht in Chicago und sollte Angaben zur Person machen. Abbie nannte er sich, und eine Waise sei er, eine amerikanische Waise. Nach seinem Wohnort fragte ihn das Hohe Gericht, und das Waisenkind antwortet: "Ich bin Angehöriger der Woodstock-Nation." Abbie Hoffman, der Anstifter der intelligenteren Vietnam-Proteste, der Mann, der das Pentagon allein mit Verstandeskraft in die Höhe lupfen wollte, der große Provo, hatte endlich eine Heimat gefunden.

Mythos Woodstock: So war es vor 40 Jahren in den USA, heute findet das einzig wahre Woodstock in Wacken, Landkreis Steinburg, im schönen Schleswig-Holstein statt.

So war es vor 40 Jahren in den USA, heute findet das einzig wahre Woodstock in Wacken, Landkreis Steinburg, im schönen Schleswig-Holstein statt.

(Foto: Foto: Getty Images)

Mit ihm sind Ende der sechziger Jahre mehrere Millionen Amerikaner aus ihrem Land ausgewandert. Die USA boten ihnen keine Heimat mehr. Wem es nicht gelungen war, sich durch Intelligenz (wie Bill Clinton) oder dank eines einflussreichen Daddys (wie George W. Bush) vor dem Marschbefehl nach Südostasien zu drücken, der musste als Deserteur nach Schweden oder Kanada flüchten. Das Oberkommando entlaubte in Vietnam den Dschungel. Leutnant Calley ließ in My Lai für den Fortbestand der freien Welt 370 Frauen und Kinder niedermetzeln. Zu Hause drohte in den Städten der Krieg zwischen den Rassen. Und begann 1969 nicht auch die Inflation?

Seit Woodstock gab es eine neue Gemeinschaft, die mit "Gegenkultur" nur sehr unzureichend beschrieben ist. Woodstock ist eine Lebensform und die Erlaubnis, sich wie beim Kindergeburtstag in allen Farben des Regenbogens zu verkleiden, sich zu schminken und sich, wenn's ganz toll ist, auch im Dreck zu suhlen. Woodstock lebt aber vor allem von den Erinnerungen derer, die nicht dabei waren, allen voran die Sängerin Joni Mitchell, die im Stau stecken geblieben war. Sie schenkte den Teilnehmern die Hymne "Woodstock", die der allgemeinen Regression biblische Größe verlieh: "We are stardust, we are golden/We are ten billion year old carbon/And we got to get ourselves back to the garden." Gottes eigenes Land hatte, wie's jetzt im Liede hieß, zurück in den Garten Eden gefunden und musste dafür nicht einmal, wie noch der arme Kleist, die Reise um die ganze Welt machen, sondern konnte hübsch zu Hause bleiben.

Amerika war immer ein Land der Sekten und Gemeinden gewesen. Die Mormonen waren die größte, die Amish die fotogenste, die Hippies die jüngste. Weil auch die beiden Motorradfahrer für solche gehalten wurden, erschießt ein Redneck sie in "Easy Rider". Die Jugend wanderte aus diesem Land aus, in dem einen die langen Haare das Leben kosten konnten. Woodstock, das reale und erst recht das geträumte, wurde ihre neue Heimat.

Lesen Sie auf Seite 2, warum Woodstock "nichts weiter als ein neuer Markt für gebatikte T-Shirts" gewesen sein soll.

Riefenstählerne Größe

Eigentlich war Woodstock eine Künstlerkolonie, ein ausgelagertes Greenwich Village mit Malern, Musikern, Schriftstellern. Der ehemalige Kriegsberichterstatter C.W.Ceram lebte dort und schrieb seinen Bestseller "Der erste Amerikaner". Und Bob Dylan. Nach seinem vermeintlichen Motorradunfall hatte er sich hierher zurückgezogen, hatte sich einen Bart wachsen lassen und in flotter Folge Kinder gezeugt. Manchmal musizierte er mit den Freunden von The Band und ärgerte sich ansonsten über die Touristen, die ihm ins Fenster glotzten.

Die Veranstalter hofften, ein wenig vom Nimbus des Halb-Eremiten zu profitieren, der drei Jahre zuvor aus dem Tournee-Geschäft ausgestiegen war. Sie beriefen sich auf ihn als Kirchenvater, aber das wollte der ums Verrecken nicht sein. Dylan trat nicht in Woodstock auf, sondern lieber zwei Wochen später in England, auf der Isle of Wight. "Woodstock war nichts", sagte er später, "nichts weiter als ein neuer Markt für gebatikte T-Shirts. In Woodstock ging es um Anziehsachen. Heute beschäftigen sich die gleichen Leute mit Computern." Gut gesprochen, Bob. Und natürlich machte er dann doch Werbung für Apple, und bei einem der zahlreichen Woodstock-Revivals trat er auch auf.

Monterey zwei Jahre zuvor war umsonst gewesen, und die Grateful Dead traten immer wieder kostenlos auf, aber Woodstock brachte endlich den kommerziellen Höhepunkt, dem die Pop-Welt entgegengefiebert hatte. Auch wenn im zweiten Ansturm die Umzäunung draufging und in der Not der Eintritt doch noch freigegeben wurde, machte der Erlös aus den Nebenrechten, der legendären Dreifach-LP und dem Film, alle Beteiligten reich. Woodstock war nicht der Abschluss der sechziger Jahre - der kam vier Monate später in Altamont, wo ein Zuschauer vor den Augen der Rolling Stones abgestochen wurde -, sondern der Beginn der totalen Vermarktung der Pop-Musik. Um nur ja dabei zu sein bei einem weiteren Groß-Ereignis, war bald alles recht und durfte die Musik egal sein. Die schlichte, möglichst riefenstählerne Größe wurde wichtig. Emerson, Lake & Palmer (Erinnert sich noch jemand an die?) protzten auf ihrem Album-Cover mit dem Technik-Schrott, den die Sattelschlepper für sie über die Autobahnen transportieren mussten.

Was die Musik immer weniger lieferte, musste die Show ersetzen. Plastikschweine flogen durch die Luft, Hochseilartisten balancierten übers Publikum, ohne Feuerwerk wurde der immer mehr zahlende Zuschauer nicht nach Hause entlassen. Das ist der Lauf der Welt und auch nicht schlimmer als ein Samstagabend mit Thomas Gottschalk. In den Jahrzehnten seither ist keiner vor Woodstock-Revivals sicher. Bono benefizt um die ganze Welt, die inzwischen doch wissen sollte, dass das einzig wahre Woodstock inzwischen in Wacken, Landkreis Steinburg, im schönen Schleswig-Holstein stattfindet. Jugend- und Gegenkultur, freie Liebe (es gab noch kein Aids, aber dafür die Pille), Luftgitarrensoli, Trommel-Sessions, weggedröhnte Musiker, geldgierige Veranstalter: alles gab es in Woodstock.

Nur das Böse musste für drei Tage draußen bleiben. Das Böse war nicht nur Vietnam, das Böse steckte auch in der Musik. Der ehemalige Sträfling Charles Manson hatte bedürftige junge Mädchen um seine Gitarre versammelt und war mit ihnen durch Kalifornien gezogen. Bei den Beach Boys schmeichelte er sich ein, weil er seinen Harem bereitwillig herlieh. Mit dem bei den Beatles vorgefundenen Schlachtruf "Helter, Skelter!" zogen seine Mädchen dann in die Nacht, um insgesamt sieben Menschen abzuschlachten. Eine Woche vor Woodstock.

Lesen Sie auf Seite 3 von freischwingenden Schwänzen, unbearbeiteten Brüsten und dem sorglosen Spielen im Schlamm.

Sorgloses Spielen im Schlamm

"Ladies and gentlemen", sagte eine Stimme am Ende der drei Tage Frieden und Musik ins Mikrophon. "Thank you so very much", und wünschte allen ein schönes Leben. Denn es war noch einmal gutgegangen. Tausendfach berührt und doch war nichts passiert. Als Jimi Hendrix seine Gitarre in der roten Vordämmerung jaulen ließ, verloren sich die Splittergeräusche über vierhunderttausend Helden, die nur der Schlaf (und milde Drogen) fällen konnte. Woodstock war ein Zufall, ein glücklicher dazu, und zu diesem Glück gehörte, dass in dem ganzen Durcheinander, den organisatorischen und sanitären Schwierigkeiten, Musik gespielt wurde, Musik für ein ganzes Leben. Dank Digitalisierung und einer am Krückstock gehenden Musikindustrie wurden die alten Aufnahmen mit jeder Neuauflage besser. Joe Cocker lieferte noch nicht die Tonspur für den Striptease im ehelichen Schlafzimmer, sondern jaulte sich die Seele aus dem Leib; Roger Daltrey zelebrierte "Tommy" vor seinem eifersüchtigen Komponisten Townshend; Al Wilson sang davon, wie schön es wäre, raus aufs Land zu fahren, die alte Sehnsucht.

Der Regisseur Michael Wadleigh, der den Film zum Festival drehte (den ihm der noch völlig unbekannte Martin Scorsese zur Oscar-Reife schnitt) hat vielleicht doch den treffenden Vergleich für das Festival gefunden: Es war nicht nur das Gegenteil von, sondern auch das Gegenstück zu Leni Riefenstahls Reichsparteitagsfilm "Triumph des Willens". Die Nazis und Hitlers Lieblingsregisseurin feierten die schiere Masse, die Überwältigung durch die straff organisierte Menge, also den Rausch an der eigenen Macht.

So dumm konnte nicht einmal Leni Riefenstahl sein, als dass sie nicht gesehen hätte, was in Nürnberg passierte: Der Masse war jede Individualität ausgetrieben, sie war, in der Formulierung Kracauers, als Ornament aufgezogen, angetreten zum Opfergang für den unersättlichen Führer, sein künftiges Schlachtvieh. Wie harmlos dagegen die Massen in Bethel, ganz weit oben im Bundesstaat New York. Nicht Kanonen-, sondern bloß Schwenkfutter für die gierigen Kameras: freischwingende Schwänze, unbearbeitete Brüste, ein sorgloses Spielen im Schlamm, das Ravi Shankar an die Wasserbüffel in seiner indischen Heimat erinnerte. Wer sich nicht vorstellen kann, welche Freiheit Woodstock wenigstens vorübergehend brachte, soll mal versuchen, seine noch nicht schulpflichtigen Kinder nackt an einem amerikanischen Hotelpool herumlaufen zu lassen.

Ja, es war ein gigantischer Kindergarten, aber vor allem war Woodstock das Gegenteil der Volksgemeinschaft, das Gegenteil auch der "formierten Gesellschaft", in der versprengte Carl-Schmitt-Schüler noch in jenen mirakulösen Sechzigern das Heil sahen. Und deshalb wanderte Abbie Hoffman aus den USA aus und ließ sich in die "Woodstock Nation" einbürgern. Es gab sie bloß nie. Hoffman hatte sie zum Geisteszustand erklärt und Woodstock zum Land seiner Wahl. Die "Woodstock Nation" gab es auch nicht während der drei wundermilden Tage, die im August vor vierzig Jahren unter der Herrschaft des gütigen Reaktionärs Richard Nixon stattfanden.

Aber dort entstand ein Lied, ein trauriges Lied, yes Sir, ein besonderes Lied. Nein, es ist nicht "Star Spangled Banner", Jimi Hendrix' zerhackte Version der Nationalhymne, es ist auch nicht Country Joe McDonalds Vietnam-Rag, sondern die "Suite: Judy Blue Eyes", mit der - angeblich die Hosen voll im Premierenfieber - die Band Crosby, Stills, Nash & Young debütierte. (Genau genommen war es schon der zweite Auftritt.) "Remember what we've said and done and felt about each other/Oh babe, have mercy/Don't let the past remind us of what we are not now." Dieser Song schläft in allen Dingen, die da träumen fort und fort. Ladies and gentlemen of the Woodstock Nation: Thank you so very much.

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