"Mustang" im Kino:Vergitterte Unschuld

Filmstarts - "Mustang"
(Foto: AP)

Das Filmdrama "Mustang" von Deniz Gamze Ergüven erzählt von der archaisch anmutenden Repression selbst junger Mädchen in der ländlichen Türkei - und von der Unschuld des Widerstands.

Filmkritik von Fritz Göttler

Die junge Frau am Empfang des Krankenhauses kennt die Szene offenbar bereits, als die Familie erregt durch die Tür stürmt, sie bleibt völlig ungerührt. Es ist mitten in der Nacht. Guten Abend, sagt der Vater, dann kommt die Mutter gleich zur Sache: Wir haben unseren Sohn verheiratet, sagt sie, und das Mädchen blutet nicht.

Zuvor hatte man schon den Sohn nervös auf dem Brautbett rumzappeln und -suchen sehen, während vor der Tür die Eltern drängen: Komm, zeig uns das Laken. Sie wollen Blut sehen, das Zeichen für die Jungfräulichkeit der Braut.

Eine verglaste Schlafzimmertür, man sieht durch sie die drohenden elterlichen Schatten. Heiratsalltag in den ländlichen Gebieten der Türkei, der Horror der fehlenden Unschuld, der den Hochzeitsdeal, die Ehre der beteiligten Familien beschädigen würde. Das Gutachten des Arztes soll die Sache klären.

Fünf eingesperrte Mädchen als Buddymovie

Mit einer Rückkehr ins Dorf hat die Geschichte von "Mustang" begonnen, fünf Mädchen tollen fröhlich am Wasser herum, am Schwarzen Meer, im Norden der Türkei. Endlich Sommerferien, endlich Freiheit, Ungebundenheit und Lust. Fünf Schwestern, im Vor- und frühen Teenageralter, die Eltern sind tot, die Großmutter sorgt für sie.

Auch Jungs tollen mit, es wird gespritzt, und die weißen Schulhemden kleben an den Körpern. Eine Nachbarin ist empört und denunziert die fünf: Obszönität. Die Großmutter fügt sich, die Mädchen müssen im Haus bleiben, dann holt sie noch den Onkel dazu.

Deniz Gamze Ergüvens erster Spielfilm ist ein Buddymovie mit Mädchen, und seine verschworene Gemeinschaft ist frech und fröhlich, manchmal auch ziemlich enervierend - das hatte dem Film eine Nominierung für den besten nicht-englischsprachigen Film bei den Oscars eingebracht.

Emanzipation als Tom-Sawyer-Geschichte

Fünf Mädchen auf engstem Raum, in innig-lustiger Gemeinschaft, das ist eine Menge Albernheit und Lachen, Pop und Pink. Der Onkel, mit der Großmutter als Exekutivkraft, muss das alles mühsam reduzieren. Keine Handys, keine Jeans, auch die langen Haare sind unangemessen. Die Mädchen sehen sich mit Haushaltsarbeit konfrontiert, das Haus wird vergittert. Einzeln werden die Mädchen jungen Heiratsanwärtern vorgestellt.

Das ist unfasslich bitter und erschreckend komisch, dieser Horror kleinbürgerlicher Mittelmäßigkeit und Spießigkeit. Aber eben diese wecken auch die Widerspenstigkeit der Mädchen, ihre Tom- Sawyer-Erfindungskraft. Sie "schwimmen", weil es nicht mehr an den See gehen darf, in ihren Betten und klettern heimlich aus dem Fenster.

Es geht zu Jungs oder sogar zu einem Fußballspiel ins Stadion - die Mädchen sind Fans, haben noch kein Spiel ausgelassen. Der Stadionbesuch provoziert den tollsten aller Streiche, da sind alle Frauen beteiligt, gegen die gesammelte Männerschaft des Dorfes, und es geht bis zum totalen Stromausfall.

Sie schläft mit der ganzen Welt

Deniz Gamze Ergüven ist nah dran an den Mädchen mit ihrer Kamera, lässt uns ihre Intimität spüren, die Repression, der sie ausgesetzt sind. Ihre Renitenz ist die reine Unschuld, ihr Freiheitsdrang ist verführerisch und trifft immer wieder auf Solidarität. Sie waren also keine Jungfrau, fragt der Arzt, als er sich an die Untersuchung der verdächtigen Braut macht, und sie nickt. Das bleibt unter uns, meint der Arzt, dann legt sie sich hin, und er leuchtet mit einer Lampe die kritische Stelle aus.

Ich schlief mit der ganzen Welt, sagt sie verträumt, und ihr Schoß strahlt ganz intensiv, von der Lampe des Arztes. Natürlich ist sie doch Jungfrau, ihr Häutchen ist einfach nicht gerissen. Warum sagen Sie das, fragt der Arzt. Es ist spät, ich bin müde, sagt sie. Lasst mich doch alle in Ruhe.

Mustang, Türkei/F/D 2015 - Regie: Deniz Gamze Ergüven. Buch: Deniz G. Ergüven, Alice Winocour. Kamera: David Chizallet, Ersin Gok. Musik: Warren Ellis. Schnitt: Mathilde Van de Moortel. Mit: Güneş Nezihe Şensoy, Doğa Zeynep Doğuşlu, Elit İşcan, Tuğba Sunguroğlu, İlayda Akdoğan, Nihal Koldaş, Ayberk Pekcan, Burak Yiği. Weltkino, 97 Minuten.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: