Das Video beginnt mit einem Sonnenaufgang, 70er-Jahre-Look, danach folgt es einer jungen Frau durch den Tag. Aufwachen neben dem Freund, im blauen Schlafanzug in die Küche, dann Zähne putzen. Dazu Bassschläge. In oranger Strickjacke fährt sie mit dem Auto ins Büro, spricht mit Kollegen, isst zu Mittag, dann Feierabend. Dazu Schlagzeug. Als noch eine Gitarre einsetzt, beginnt der nächste Tag. Auf den ersten Blick scheint alles gleich, täglich grüßt die Lohnarbeit, nur: Die Strickjacke der Frau ist jetzt pissgelb und sie irgendwie nervös.
Was daherkommt wie ein Indie-Kurzfilm, ist das Musikvideo zu „Psycho Killer“ von den Talking Heads. In ihrem biederen Umfeld gerät die Frau, gespielt von Saoirse Ronan, mit jedem Tag ein wenig mehr aus dem Rhythmus. Erschöpft geht sie zur Tür hinein, vor den Kollegen weint sie, ihren Freund schreit sie an. Das Umfeld reagiert gar nicht darauf, als wäre sie unsichtbar. „I’m tense and nervous and I can’t relax / I can’t sleep ’cause my bed’s on fire / Don’t touch me, I’m a real live wire“, singt David Byrne dazu.
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Der Song ist deutlich älter als das Video. 1977 ist er erschienen, auf dem Debütalbum der Band, „Talking Heads: 77“. Das Video hingegen hatte seine Youtube-Premiere am 5. Juni 2025. Und „Psycho Killer“ ist nicht der einzige ältere Song, der zuletzt ein verspätetes Video bekommen hat. Da wären noch LL Cool J’s „Rock The Bells“, Bob Marleys „No Woman No Cry“, Peggy Lees „Fever“. Und einige mehr, bei denen die Interpreten teils bereits tot sind. Frage also: Warum investieren Labels in Videos zu diesen vergangenen Hits, statt in neue Musik? Und welche Bedeutung haben Musikvideos heute überhaupt noch?
Kleine Rückschau dazu. Musik im Fernsehen begann so richtig in den 1960er-Jahren. Mehr und mehr Haushalte hatten eigene Fernseher, und das darin enthaltene Potenzial erkannte auch die Musikindustrie. Mit „Top of the Pops“ startete 1964 eine der prägendsten Musiksendungen der BBC. Zu Beginn zwar ausschließlich mit Live-Auftritten von Bands, aber schon bald begannen die Beatles oder die Rolling Stones Videos vorzuproduzieren, um nicht immer live spielen zu müssen. 1975 zeigte die Sendung ein Promo-Video für Queens „Bohemian Rhapsody“. Das Visual mit den von unten gefilmten Köpfen, heute 1,9 Milliarden Streams auf Youtube, war maßgeblich für den Erfolg des Songs verantwortlich.
1981 dann die Revolution, auf einem neuen, einzig und allein für Musikvideos gegründeten Sender: MTV. Videos spielten plötzlich eine tragende Rolle in der Musikbranche. Von Michael Jacksons Meisterwerk „Thriller“ bis Britney Spears „Oops … I Did It Again“. Bis wiederum ein neues Medium in den Wohnungen von Musikfans auftauchte: Youtube.
Ein Video kann den Hype befeuern – und eine neue Zielgruppe erschließen
Dann kam Tiktok. Schon der Ursprung der chinesischen Plattform zeigt, welche Rolle Musik dort spielt: Im Jahr 2017 übernahm man die App „Muscial.ly“, auf der junge Menschen Tanzchoreografien einstudierten. Zu – natürlich – Musikhits. Acht Jahre später passiert auf Tiktok noch viel mehr, von Komik bis bitterernstem politischem Content, und trotzdem ist immer noch Platz für die Erfolgsgeschichten von Musik. Wenn es ein gutes Video gibt.
Der Tiktok-Algorithmus hat so unter anderem dem Rapper Lil Nas X und seinem Video zu „Old Town Road“ eine internationale Karriere gebracht. Dem Sänger Benson Boone und dessen Single „Beautiful Things“, die über Tiktok derart bekannt wurde, dass sie sich seither beständig in den Billboard Hot 100 hält und es bereits auf Platz 94 der bisher meistgestreamten Songs geschafft hat. Er hat das meersalzbärtige Sea-Shanty „Wellerman“ in die Charts getragen und Jahrzehnte nach der Veröffentlichung Fleetwood Macs „Dreams“. Ebenso erging es Kate Bushs „Running Up That Hill“, weil Fans der Serie „Stranger Things“ den Song im Soundtrack entdeckt hatten. Aktuell erfreut sich Radioheads „Let Down“ auch wegen Tiktok großer Beliebtheit.
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Kaum verwunderlich also, dass Labels Videos für alte Songs produzieren. Weil ein neuer Hype besteht, den man mit einem Video weiter befeuern will. Weil es passend zu einem Jubiläum noch eine neue Zielgruppe abzuholen gibt, die in Videoformat viel leichter zu erreichen ist als nur über Spotify, wo der Song unter Millionen anderen untergeht. Außerdem investieren Labels hier Geld in einen tendenziell kalkulierbaren Erfolg. Denn die Videos haben schon eine Fanbase, bevor sie überhaupt erschienen sind.
Ein solcher Gedankengang steckt vermutlich auch hinter dem Video zu Lynyrd Skynyrds „Free Bird“. Zum 50. Bandjubiläum veröffentlicht, kramt darin ein alter Mann sein verstaubtes Motorrad aus der Garage und dreht noch mal eine Runde durch blühende Landschaften. Dazwischengeschnitten sind Rückblenden zu seiner Jugend, zu einer Ausfahrt mit einer Frau. Das Ganze ist nicht über die Maßen originell, außerdem sieht alles derart verträumt bunt aus, dass man sich fragt, ob hier KI im Spiel war. Trotzdem kommt es bei Fans offenbar gut an. Mitte Mai 2025 veröffentlicht, hat es bisher schon mehr als neun Millionen Aufrufe.
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Aber auch etwas jüngere Titel erleben spätes Glück. Solche etwa, die bei Erscheinen nur hinten auf dem Album, nicht aber als Single veröffentlicht wurden. Und dann zu sogenannten „Sleepern“ wurden: Fan-Lieblingen, deren Streams stetig anstiegen. So ging es Lucy Dacus’ „Night Shift“ oder auch Charli XCX’ „Party 4 u“. Letzteres war der neunte Song auf Charli XCX’ Album „How I’m Feeling Now“ aus dem Jahr 2020. Anfang 2025 ging der Song dann plötzlich auf Tiktok viral. Daraufhin entschloss sich das Label, „Party 4 u“ doch noch als Single zu veröffentlichen – mit dazugehörigem Video.
Womit sich in diesem geldgetriebenen Trend doch noch etwas Schönes erkennen lässt: Fans haben offenbar noch eine gewisse Macht zwischen Algorithmen und strategischem Marketing. Wenn sie Songs durch Streaming und das Verwenden in ihren Tiktok-Videos erfolgreich machen, orientieren sich Labels auch daran. Und geben den Fans ein Video. Auf Tiktok, aber auch auf dem guten alten Youtube.

