Musiktheater:Europas Opernmacher

Er hat das Musiktheater verändert, europaweit. Gerard Mortier (1943-2014) war Opernintendant in Brüssel und in Salzburg, in Paris und in Madrid, sogar im Ruhrpott. Was dachte er über Oper, Kunst und Politik?

Von Wolfgang Schreiber

Der Mann und seine Leidenschaft haben das Musiktheater verändert, europaweit. Gerard Mortier (1943-2014), Operninten-dant in Brüssel und in Salzburg, in Paris und in Madrid, sogar im Ruhrpott, stritt zeitlebens dafür, das alte "unmögliche" Kunstwerk Oper auf einer zeitgemäßen Ebene zu positionieren. Besonders durchgreifend, und weithin ausstrahlend, im Salzburg der neunziger Jahre: Mortier übernahm die Künstlerische Leitung der Salzburger Festspiele, nachdem Herbert von Karajan gestorben und dessen Festivalmodell eines medial vernetzten Starkünstlertums verblasst war.

Karajans Nachfolger gelang es in Salz-burg, jüngere Regisseure zu brisanten Interpretationen anzustacheln, ihre Bilderwelt, ja die ganze Atmosphäre der Operngattung wie neu aussehen und fühlen zu lassen. Und sich als ein Europa-Universalist zu behaupten, wie aus den hier versammelten, auf Spanisch verfassten Vorträgen und Essays hervorgeht, die Mortier nach 2010, in den Jahren seiner Direktion am Königlichen Operntheater zu Madrid, geschrieben hat.

"Es hat keine große künstlerische Bewegung in Europa gegeben, die nur einer Nation oder einem Land zugehört", steht im Manuskript eines Vortrags, den Mortier im März 2014 in Brüssel halten wollte. In dem Monat starb er. "Die kulturelle Identität Europas" heißt der Text, der Au-tor will beweisen, dass das Wesen des Kontinents sich dem ursprünglich moder-nen, heute reaktionären Nationalismus verdankt, den sozialen Ordnungen, der Geografie, Religion und den Künsten. Zielgenau landet er bei den zwei zentra-len, "zu Beginn der Neuzeit, in der Mor-genröte des 16. Jahrhunderts" entstan-denen Mythen: Faust und Don Juan. Und bei "zwei der größten europäischen Künstler", die sich von ihnen inspirieren ließen: Goethe und Mozart.

Musiktheater war für ihn kein Luxusgut, sondern "Religion des Humanen"

Bei Mozart ist Mortier in seinem Element, will sich noch immer wundern über den sechsjährigen Salzburger Knirps, der drei Jahre lang mit der Familie durch ganz Europa reiste und sich als "Wunderkind" bestaunen ließ. Mozart sprach fließend Italienisch, Französisch, Deutsch, lernte Englisch, er war "einer von vielen Künstlern, die uns auf unserem europäischen Weg leiten können".

Mortiers Textparcours enthält knappe Werkporträts, so über den "Tristan" und Glucks "Alceste", über Bergs "Wozzeck" und Rihms "Mexiko"-Oper, über Messiaens "Saint Francois d'Assise" und Purcells "The Indian Queen". Seine Stücke! Mortier verstand das Theater als "eine Religion des Humanen". Als einstiger Gründungsintendant der "Ruhrtriennale" dachte Mortier in Madrid noch einmal nach über das demokratisch erweckte "Theater in einer Industrieregion". Aus so neu entfachter Lust an der Oper versicherte sich Mortier des Einspruchs gegen die Ökonomisierung der Künste, gegen den Populismus und jede Art von Konformismus. Sein Protest galt besonders der Neigung von Opernliebhabern, das Musiktheater als ihr Luxusgut zu vereinnahmen. Was er mit aller Leidenschaft betrieb, war die kreative Auseinandersetzung mit Europas einst übermächtigem Gesamtkunstwerk. Ruhm und Gegnerschaft waren ihm sicher sein.

Gerard Mortier: Das Theater, das uns verändert. Essays über Oper, Kunst und Politik. Aus dem Spanischen von Konstantin Petrowsky. Herausgegeben von Reinhart Meyer-Kalkus. Bärenreiter-Verlag/ J. B. Metzler, Kassel, Stuttgart, Weimar 2018. 192 Seiten, 24,99 Euro.

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