Süddeutsche Zeitung

Musiktheater:Die Liebe ist eine tödliche Krankheit

Größer als grandios: In Paris wird Verdis Verzweiflungstragödie "La traviata" als so hinreißende wie verstörende Oper der Gegenwart bejubelt.

Von Reinhard J. Brembeck

Ob er das ernst meint? Benjamin Bernheim ist derzeit der begehrteste Tenor weltweit. Der Franzose ist Mitte 30, ein verspielter, groß gewachsener Mann, der sich auf der Bühne so natürlich bewegt, wie er mühelos singt. Er ist auch ein grandioser Komödiant, sein Charme reißt hin. So kommt Bernheim, er gibt den recht unbedarften Reichenschnösel Alfredo, auch auf die Party im Pariser Palais Garnier, der imperial goldprotzigen aber dennoch intimen zweiten Spielstätte der Pariser Nationaloper und baggert seine Herzensdame Violetta derart lächelnd dreist an, dass sich jeder am Ende dieses ungewöhnlich lang bejubelten grandiosen Abends fragen muss: Meint er das ernst?

Zumal seine Auserwählte Violetta das unbestrittene It-Girl der Pariser High Society ist, Instagramschönheit, Youtuberin, Markenwerbetussi, Glitterflitterbitch, die sich in Fragen ihrer Lebensfinanzierung irgendwo zwischen Escort und Edelmaitresse eingerichtet hat. Pretty Yende stellt diese Flatterexistenz genauso spielverliebt selbstverständlich her wie Benjamin Bernheim seinen Unbedarftlover. Yende und Bernheim, das ist das neue Traumpaar der Pariser Oper, die beiden werden hier im März auch die Premiere von Giacomo Puccinis "Manon" singen. Doch jetzt sind sie erstmals mit Giuseppe Verdis Liebesverzweiflungstragödie "La traviata" beschäftigt.

Kopulierende Paare, traurige Chats - und Gefühle als Vergehen

Traviata meint spröd moralisch die Vom-(rechten)-Weg-Abgekommene. Doch Verdi überhöht das Verdikt zu seinem Lieblingsthema: Liebe ist in der westlichen Gesellschaft unmöglich, sie ist in ihrer unkontrollierbaren Heftigkeit ein Vergehen gegen die Prinzipien von Wirtschaft und Sozialstruktur, sie muss deshalb immer mit dem Tod bezahlt werden. So hat das Verdi 1853 für Venedig komponiert. An dieser bitteren Analyse aber hat sich seither nichts geändert, das machen jetzt Benjamin Bernheim, Pretty Yende und ihr Regisseur Simon Stone, auch er gerade von allen Bühnen begehrt und umworben, in Paris klar.

Das Handy ist wie im Alltag auch auf der Bühne allgegenwärtig. Chats in all ihrer charmanten Dürftigkeit flirren über die zwei sich liebend gern drehenden Bühnenwände (Bob Cousins), über die auch mal Bruce Naumans berühmte kopulierende Paare flirren, nur aus bunt leuchtenden Neonröhren gebastelt, die schnell zwischen zwei Liebespositionen wechseln. Der Wiederholungszwang des Marquis de Sade trifft sich hier mit Werbung und Oberfläche. Für Liebe ist in dieser Welt sichtbar kein Platz.

Warum die alte Oper nicht umzubringen ist

Sie schlägt aber trotzdem zu. Zwar singt Bernheim seinen Antrag ungelenk tapsig vor. Als er dann aber ganz oben an der riesigen Champagnerglaspyramide steht, den Korken erst nicht aus der Flasche kriegt, aber dann sein Trinklied als direkte und unendlich poetische Anmache formuliert, da weiß man plötzlich, warum die alte Oper nicht umzubringen ist. Was Bernheims Aufnahmen verschweigen, was keine Konserve verrät: Diese Stimme füllt immer mühelos den ganzen Raum, sie betört. Und zwar sowohl in den lauten Passagen, wenn sich herb Männliches in diesen leicht dunkel verschatteten und stets lockenden Tenorklang mischt, als auch in den leisen Momenten, wenn die Stimme nur noch vom Versprechen auf ein Paradies handelt, das mit Wörtern nicht zu benennen ist.

Bernheim vermeidet jede Statik und Stetigkeit. Er singt jeden Ton bewusst anders geformt, wechselt schnell zwischen den Lautstärken und Klangfarben. Aber so bewusst das auch gemacht ist, immer wirkt das natürlich, naiv, spontan, unangestrengt, unverkopft und tief empfunden. Das aber ist die höchste Kunst beim Singen, wenn das Artifizielle als Natur daherkommt. Bernheim betreibt die vollkommene Irreführung der Sinne, die das völlige Glück bedeuten. Er ist ein ganz großer Meistersänger.

Auch Pretty Yende kann diese Natürlichkeit, in den schnellen Läufen, dem Tongeflatter genauso wie im Lyrischen, Zarten, Verträumten. Die leisen und langsamen Nummern sind ihre Domäne, da lässt sie die Stimme selbst in den höchsten Höhen nur als Hauch erklingen, da scheint sie nicht mehr atmen zu müssen, da wird die Seele zu Klang. Yende wie Bernheim zeigen sich zudem nicht wie stolze Künstler, die sich ihres überragenden Könnens selbstsicher bewusst sind. Sie geben sich wie Alltagsmenschen, denen das eigene Künstlertum und Können entgeht. Genau das macht die beiden zu modernen Künstlern, da sie nicht anders scheinen wollen als all die anderen Menschen um sie herum, die aber leider nicht so gut und selbstverständlich singen können.

So hätte dieser Abend ein grandioses Sängerfest sein können. Wegen Regisseur Simon Stone aber wurde er viel mehr. Stone interessiert einzig und allein die Gegenwart, die Vergangenheit ist ihm egal. Die "Traviata" mit ihrer nach wie vor triftigen und vernichtenden Gesellschaftskritik kommt Stone wunderbar entgegen. Hier kann er im Heute zeigen, was schon Verdi fürs 19. Jahrhundert komponierte: die völlige Veräußerlichung der Menschen und ihrer Gefühle im Kapitalismus. Wenn Violetta auf der Upperclassparty zu Beginn schwächelt, ihre zuletzt tödliche Krankheit (Aids, Krebs, TBC?) meldet sich da erstmals, dann zieht sie sich wie ein verwundetes Tier aus dem gleißenden Publicity-Licht zurück, verkriecht sich hinterm Haus bei den Mülltonnen und dem erschöpft rauchenden Personal.

Es hätte als Tränendrüsen-Lovestory enden können

Denn der Unort ist das einzig mögliche Idyll, in dem die Liebe zwischen Violetta und Alfredo erwachen kann. Die beiden fliehen folglich aufs Land. Die Liebesidylle dort aber ist falsch. Alfredo keltert mit nackten Füßen echten Wein, Violetta melkt eine echte Kuh. Dieser herbe Realismus in den beiden kargen Wänden des Bühnenbilds und im Protz des Palais Garnier zeigt die Unmöglichkeit dieser Liebe, die dann zuerst von Alfredos Normalpapa gestört wird, Ludovic Tézier zeigt ihn als verhuschten Buchhalter, singt ihn traditionell solide tonprächtig. Zuletzt stirbt Violetta auf einem sterilen Krankenhausbett. Ihre tödliche Krankheit heißt Liebe. Die sich in diesem Stück nur in der Musik verwirklichen darf.

Der Dirigent Michele Mariotti und das Pariser Opernorchester schmiegen sich ganz den ohne Marotten singenden Solisten an. Da stören keine Sentimentalität, keine Gewolltheiten, keine schleppenden Tempi. Die trockene Akustik des Palais Garnier verhindert wie Simon Stones Regie immer, dass die "Traviata" zu einer Tränendrüsen-Lovestory verkommt. Und das Pariser Publikum, sonst nur schwer zu längeren Ovationen bereit, feiert nicht nur Pretty Yende und Benjamin Bernheim, sondern diese ganze packend erhellende Produktion ausgiebig lang jubelnd.

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Quelle:
SZ vom 16.09.2019
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