Süddeutsche Zeitung

Musiktheater:Ahnung und Verheißung

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Der ungarische Theatermacher Kornél Mundruczó hat bei der Ruhrtriennale György Ligetis "Requiem" in das abendfüllende Stück "Evolution" verwandelt.

Von Egbert Tholl

Ächzend öffnet sich die Schiebewand, weicht knirschend nach links und rechts, gibt einen trüben Raum frei, von einer Funzel vage beleuchtet. An der Rückwand öffnet sich eine Tür, dickes, gelbes Licht und ein wenig Nebel dringen herein, drei wuchtige Männer betreten den Raum. Sie tragen Gummischürzen und Gummistiefel, haben Eimer und Schrubber dabei, verspritzen Putzmittel, beginnen, Boden und Wände zu säubern - ein von keinem Erfolg gekröntes Unterfangen. Von rechts hört man Musik, da sitzen die Bochumer Symphoniker und der Staatschor Latvija, von dort dringen dunkle Liegeklänge und ein amorphes Summen, als ein Raunen versteht man die ersten, zerdehnten Worte: "Requiem aeternam."

Der ungarische Film- und Theatermacher Kornél Mundruczó inszeniert bei der Ruhrtriennale in der Jahrhunderthalle in Bochum György Ligetis Requiem als "Evolution". Und zwar abendfüllend, was zunächst verblüfft, denn eine Aufführung des Werks, uraufgeführt 1965 in Stockholm, dauert etwa 27 Minuten. Ligeti vertont lediglich den Introitus, das Kyrie, die Totensequenz ("Dies irae"), endend mit einem apotheotischen Lacrimosa. Dabei ist ihm nicht der semantische Gehalt wichtig, der läuft sozusagen als Unterschicht mit. Ligeti interessiert der Klang der Worte, die er meist stark zerdehnt, zu einem mehrstimmigen, kaum zu entwirrenden Gebilde zusammenwebt, das Orchester legt multipolyphon diverse Schichten darunter. Mitunter wird das auch dramatisch, gerade wenn die beiden Gesangssolistinnen hinzutreten - in Bochum sind dies Yeree Suh und Virpi Räisänen. Meist aber entsteht ein irisierender, flirrender Klang, der in der Wirkung vom Tod und Schmerz an sich kündet. Ligeti hat Nazidiktatur und Stalin erlebt, wenn er in seiner Vertonung mit dem Flehen um Erbarmen und um die ewige Ruhe der Toten endet, dann hofft er darauf, dass die Gräuel nie wiederkehren.

Unter Bergen von Haaren finden die Arbeiter ein Baby und nehmen es mit, als wären sie die Könige aus dem Morgenland

Kornél Mundruczó macht daraus im fantastischen Bühnenbild von Monika Pormale ein Triptychon, einen dreiflügeligen Altar mit dem Namen "Evolution". Auch ihn beschäftigen Erinnerung und Wiederholung. Der erste Teil, "Eva", spielt in der Vergangenheit, der zweite, "Lena", ist die Gegenwart, der dritte, "Jonas", die Zukunft. Drei Generationen.

Den Raum des ersten Bilds erkennt man bald als Gaskammer, Duschen, Guckloch in der Stahltür. Die drei wuchtigen Putzmänner - Schauspieler von Mundruczós Proton Theater in Ungarn - entdecken in den Ablaufgittern und in Duschköpfen Haare. Riesige Haarstränge ziehen sie hervor, verheddern sich in ihnen, es wird ein Kampf, die Musik schäumt auf zum "Dies irae", Wasser springt in Fontänen aus dem Boden. Die Kammer des Mordens wandelt sich zum Ritualbad, die Männer entledigen sich ihrer Kleidung, geben ihre Arbeit auf, wollen gehen, doch da schreit ein Baby. Unter einem Bodengitter, unter Bergen von Haaren bergen sie es, nehmen es mit, als wären sie die Könige aus dem Morgenland. Die Kammer schließt sich, das Baby ist Eva.

Dieser erste Teil, bei dem Ligetis Musik komplett durchläuft, ist an Beklemmung kaum zu überbieten. Gleichzeitig hat man das irritierende Gefühl, Ligeti habe seine Musik genau für Mundruczós Bildwelt komponiert.

Langsam breitet sich auf der Bühne ein gleißender Lichttunnel Richtung Hoffnung aus

Im zweiten Teil sitzt Eva, inzwischen alt und gespielt von der wundervollen Lili Monori, mit ihrer Tochter Lena, gespielt von Annamáría Láng, in der Küche ihrer Wohnung. Die sieht man durch die Fenster, im Video links und rechts sieht man die Frauen, jeweils aus der Perspektive der einen wie der anderen. Sie streiten. Darüber, dass die Tochter nach Berlin floh, wo sie über die jüdische Gemeinde einen Schulplatz für Jonas bekam. Darüber, dass die Mutter immer noch in der Vergangenheit lebt, Budapest nicht verlassen will, kein Wiedergutmachungsgeld und keine Ehrung annehmen will. Es ist so hart wie ausweglos. Ligetis Musik erklingt nur noch als Echo, sehr sporadisch, das lange Reden ist quälend. Am Ende öffnet sich der Raum, Wasserfontänen ergießen sich aus der Decke, aus Schränken. Die Flut ist eine der Erinnerung, aber auch eine Reinwaschung. Lena steht in der Küche und lächelt.

Bei Kornél Mundruczó gehen Narration und Abstraktion Hand in Hand. Seine hyperrealistischen Bilder haben stets ein surreales Element. Auch der dritte Teil beginnt noch sehr konkret, man sieht den Jungen Jonas mit seinem Handy, man liest Whatsapp-Nachrichten, er wird wegen seiner langen Nase gehänselt. Langsam breitet sich auf der Bühne ein gleißender Lichttunnel aus, die Lichtinstallation von Felice Ross malt mit Laser, Licht und Nebel eine extreme Zentralperspektive, in deren Fluchtpunkt eine Erdkugel ohne Menschen ruht, nur Wasser, Wolken. Jonas und vierzehn andere Kinder erobern den Raum, als beträten sie eine Zukunft. Die Musik dafür hat Steven Sloane zuvor mit den Bochumer Symphonikern eingespielt, nun kommt sie, elektronisch bearbeitet, vom Band, schwebend zwischen Ahnung und Verheißung.

Dieses optisch umwerfende Schlussbild, eingetaucht in den Klang von Ligetis Lacrimosa, hat sicherlich auch ein bisschen was von zukunftsschimmernder Esoterik. Vor allem aber ist es ein Ringen um Hoffnung. Insgesamt ist "Evolution" eine Aufführung, wie sie wohl nur ein Festival wie die Ruhrtriennale zeigen kann. Gewaltig, erschütternd, groß.

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SZ vom 12.09.2019
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