Musikjahr 2016:Das sind die Pop-Momente des Jahres

Bowie ist tot, Beyoncé marschiert beim Super Bowl auf und Kanye West feiert die größte Laptop-Party der Geschichte. Poptechnisch geht ein Wahnsinnsjahr zu Ende. Zeit, Bilanz zu ziehen.

Von SZ-Kritikern

1 / 10

Kanye West & Nick Cave

Kanye West dances during his Yeezy Season 3 Collection presentation and listening party during New York Fashion Week

Quelle: REUTERS

Bowie ist tot, Beyoncé marschiert beim Super Bowl auf und Kanye West feiert die größte Laptop-Party der Geschichte. Poptechnisch geht ein Wahnsinnsjahr zu Ende. Zeit, Bilanz zu ziehen.

Um die ganze emotionale Bandbreite des Popjahres 2016 zu erleben, musste man nicht einmal aus dem Kinosessel aufstehen. Einer dieser blassgrauen Multiplex-Sessel, in einem dieser ortlosen Orte, die einen vergessen lassen, ob man gerade in München, Berlin oder Oldenburg ist. Oder eben im New Yorker Madison Square Garden. Bei der größten Laptop-Listening-Party der Musikgeschichte. Kanye West präsentiert sein neues Album "The Life of Pablo" und streamt die Show in Kinosäle auf der ganzen Welt.

Und während man sich noch darüber amüsiert wie absurd, lächerlich und absolut übergeschnappt diese Veranstaltung ist, rumpelt plötzlich dieser Neo-Gospel-Monstersong von "Ultralight Beam" aus den Stadion- und Kinoboxen: the Devil, Jesus Christ, the Lord, Hallelujah. Und Kanye-Protegé Chance The Rapper flowt durch die lässigste Strophe des Jahres: "I met Kanye West, I'm never going to fail." Recht hat er. Auf einmal erscheint das alles überhaupt nicht mehr unpassend, der megalomanische Maßstab, die Inszenierung, selbst das Videospiel mit Kanyes toter Mutter als Engel. Kanyes Leben ist Kanyes Kunst und die ist wie das Leben: erhabener Irrsinn.

Die Antithese zu diesem strahlenden Fest der Plattitüden liefert einige Monate später Nick Cave. Selbes Kino, selber Saal, wieder eine Albumpremiere. Diesmal in Form einer elegant schweren Schwarz-Weiß-Doku. Regisseur Andrew Dominik, der große Mythendekonstrukteur des zeitgenössischen Kinos, dekonstruiert den Mythos Nick Cave. Und eine der großen Erzählungen des Pop zerstört er gleich mit, nämlich die, wonach Kunst Katharsis schafft. Nein, hier ist kein Licht am Ende des Tunnels, Schmerz ist einfach Schmerz, dumpf und zerstörerisch. Nick Cave hat seinen Sohn verloren. Dann hat er ein Album geschrieben, so zerhauen und düster wie das Leben. Irrsinn, ja, aber kein erhabener.

Julian Dörr

2 / 10

Jenny Hval

Jenny Hval

Quelle: Jenny Berger Myhre; Jenny Berger Myhre, Lasse Marhaug

Es gibt, ungefähr auf halber Strecke, eine Stelle auf "Blood Bitch", Jenny Hvals toller, atmosphärischer Avantgarde-Pop-Platte, da stellt sich die Künstlerin wie zur Probe selbst eine Journalistenfrage: "What's this album about, Jenny?" Weil die Antwort - "It's about vampires" - ebenso simpel wie mysteriös klingt, ahnt man gleich, dass diese Frage wie sooft bei der Norwegerin gar nicht so leicht zu beantworten sein wird. Denn natürlich geht es zwischen den flirrenden Soundcollagen, Geräuschfetzen und zarten Melodien eben auch um viel mehr: um Blut, Verlangen, weibliche Identität, Menstruation, Selbsterkundung, Superkapitalismus, Tabus und Todesklagen. Jenny Hval ist eine Meisterin solcher postmodernen Gedankenwanderungen. "Blood Bitch" ist ein großes Ineinanderfließen von Themenwelten, Zeichen und Bildern. Hier findet alles gleichzeitig statt: Theorie, Selbstoffenbarung, Bewusstseinsstrom, Fiktion und Alltagsbanalitäten.

Fast noch besser als Hval durch ihre weirden, assoziativen Songwelten zu folgen, ist es aber sich mit ihr für eine halbe Stunde in einem Gespräch zu verlieren. Im Sommer sitzt Hval für Interviews im Innenhof eines Berliner Hotels, trinkt grünen Tee und wirft einem scharfsinnige und auf ungewohnt sanfte Weise neugierige Blicke zu. Eine umwerfende Gesprächspartnerin, leise, smart, liebenswert, mit diesem leicht kehligen, skandinavischen Tonfall, der stets klingt, als wissen seine Träger irgendetwas anderes, Ursprüngliches über das Leben als man selbst. Sofort zieht sie einen in ihr Gedankenlabyrinth: trashige Vampir-Horrorfilme aus den Siebzigern, Traumdeutung, Lena Dunham, Unendlichkeit, Sex, Architektur, Genderfragen. Man nickt ihr gebannt zu, wenn sie einem die Welt aus diesen unterbewussten Zuständen heraus neu erklärte, in denen eine einzige Idee gleichzeitig in zehn verschiedene Richtungen zielen kann und alles mit allem verbunden ist. Und am Ende tritt man seltsam beglückt aus Hvals Gedankenwelt zurück in die "echte" Welt hinaus, die einem plötzlich wieder viel geheimnisvoller vorkommt.

Annett Scheffel

3 / 10

M.I.A.

M.I.A.

Quelle: Viviane Sassen

Die allermeisten Rücktritte tun weh, weil sie zu spät kommen. Das machtbewusste Menschlein klammert sich so lange ans Amt, bis der Ruf irreversibel ruiniert ist. Da gleichen sich Politiker und Popgrößen. Bis zum beschämenden Punkt, an dem das Weihnachtsalbum des einstigen Idols auf der Toilette im Einkaufszentrum das Plätschern der Klospülung begleitet. Ganz selten kommt ein Rücktritt zu früh - und schmerzt so wie der von Sängerin M.I.A. in diesem Jahr.

Maya Arulpragasam, wie die gebürtige Londonerin mit bürgerlichem Namen heißt, war nie eine Popqueen. Eine der einflussreichsten Musikerinnen ihrer Generation war sie trotzdem. Eine, die politische Botschaften zu verkaufen wusste, ohne dass sie dadurch an Brisanz verloren hätten. Die ihre Zuhörer unangenehm an der eigenen pseudopolitischen Wohlstandsbehäbigkeit packte. "Your Values? What's up with that?", singt sie auf ihrem fünften Album. Ihrem letzten Album, wie die Frau mit den tamilischen Wurzeln selbst sagt. Man kann das als Aufgeben deuten: Die Stimme der Ungehörten, der Machtlosen verstummt, weil sie nicht durchdringt. Weil es die Musik eben doch nicht vermag, die Welt ein bisschen besser zu machen. Oder man nimmt den Rücktritt von M.I.A. als finalen, selbstbewussten Akt einer Künstlerin, die die Super-Bowl-Verantwortlichen einmal erzürnte, weil sie unabgesprochen den Mittelfinger in die Kamera streckte. Manchmal tut Abschied verdammt weh.

Johanna Bruckner

4 / 10

Iggy Pop

Iggy Pop in Hinwil

Quelle: dpa

Irgendwo da vorne muss er sein. Man sieht ihn natürlich nicht, weil er ja so klein ist. Er hat sogar mal einen Song darüber gesungen, "Five Foot One", also 1,55 Meter, was nicht stimmte, tatsächlich ist er immerhin 1,71 Meter groß, aber wen kümmern heute solche Details? Iggy Pop jedenfalls nicht. Der hatte zwar zuvor noch angekündigt, seiner vermurksten Hüfte wegen auf allzu waghalsige Bühnenstunts zu verzichten, aber jetzt turnt er hier durch den kompletten Innenraum des Berliner Tempodroms und ist dabei die ganze Zeit von dieser immer größer werdenden Menschentraube umgeben. Aber man lässt ihn gewähren, man rührt ihn nicht an oder nur sehr ehrfürchtig. Es ist ein bisschen so, als wohne man der Wiedergeburt eines Heiligen bei.

Zumindest musikalisch stimmt das natürlich. Mit "Post Pop Depression" ist Iggy Pop ein fantastisches Album gelungen. Vor allem aber zeigt es sich nun auf der Bühne: Die von seinem musikalischen Partner Josh Homme für das Projekt rekrutierte Truppe ist die beste Iggyband seit den späten Siebzigern. Ich selbst habe Iggy Pop 1988 zum ersten Mal gesehen, und seitdem bestanden seine Bands meist aus viel jüngeren, eher mittelprächtigen Musikern ohne Feingespür, die ihn vermutlich bewunderten und deshalb bereit waren, für ein paar Dollar weniger mit ihrem Idol auf Tour zu gehen. Nun aber turnt Iggy durch den Saal, die Band spielt "Fall in Love with Me" aus dem Album "Lust for Life". Und während er inmitten des Menschenknäuels für Handybilder posiert, singt er die Zeilen "You look so good to me / here in this old saloon / way back in West Berlin", und natürlich denken alle sofort an Bowie und an 1977 und an die Hansa-Studios. Es ist der beste aller denkbaren Abende.

Torsten Groß

5 / 10

Die Heiterkeit

Die Heiterkeit Gruppenportraits; Die Heiterkeit

Quelle: Malte Spindler; Malte HM Spindler

David Bowie, der Brexit, Donald Trump, Leonard Cohen. Es fühlt sich so an, als hätten sich die Probleme der Welt im Jahr 2016 vervielfacht, während die Menschen, die einem bisher dabei halfen, die Probleme der Welt zu ertragen, verschwunden sind. Nein, es lässt sich nicht beschönigen, 2016 war ein düsteres Jahr. Was also tun gegen die apokalyptische Hysterie, die einem von allen Seiten entgegenschlägt? Penetranter Optimismus kann da genauso wenig ausrichten wie fatalistische Verzagtheit. Was wirklich hilft, ist Stoizismus, und es gibt kaum eine deutsche Band, die diese Haltung besser in Musik übersetzt, als die Heiterkeit.

"Pop & Tod I +II" heißt ihr drittes Werk, ein Doppelalbum ist es geworden, und es klingt genauso lässig und gleichzeitig abgründig, wie der Titel verspricht. Es geht um Licht und Schatten, aber vor allem um den Zustand dazwischen, um die Dämmerung, die alles noch so Grelle und Aufgeregte in ein beruhigendes Blau taucht. In ihrem kehligen Bass raunt Sängerin Stella Sommer von dunklen Nächten und hellen Morgen, von schlechten Vibes im Universum und den Annehmlichkeiten des Zwiespalts. "Wenn es soweit ist, werden wir es wissen, es kommt immer anders als gedacht", heißt es da zum Beispiel. Was wie eine abgedroschene Floskel klingt, wird auf "Pop & Tod" zu einem Mantra, das einen über die prekärsten Zustände hinwegrettet. Also, Kopf hoch: "Das Ende der Nacht" von die Heiterkeit hören und 2017 mit Gelassenheit erwarten.

Luise Checchin

6 / 10

Lambchop

Kurt Wagner von Lambchop

Quelle: Michael Schmelling

Als Lambchop-Fan der ersten Stunde ist es nicht ganz einfach, sich über ein weiteres Album dieser Eklektiker-Truppe aus Nashville zu freuen. Zu wenige der Alben aus den vergangenen Jahren reichten an "Is a Woman" oder "Nixon" heran. Und wenn Kurt Wagner mit "FLOTUS" quasi ein Solo-Album im Lambchop-Mäntelchen annonciert, das seine späte Liebe zur Elektronik zelebrieren soll, zu Hip-Hop und Autotune, dann wird's vollends ein wenig mulmig im Kritikerbauch. So fiel auch mein erster Höreindruck aus: "FLOTUS" als Vorab-CD im Auto, müde Sache, alles sehr unfertig und gewollt.

Aber als Fan will man mehr wissen: Ich lege die CD ein paar Stunden später daheim in die Anlage - und was für eine subtile Klangwelt tut sich auf. Alle Häkchen und Öslein, über die diese Musik verfügt, im Verkehrslärm waren sie verloren gegangen, platt gemacht worden. Jetzt perlt und quillt es aus den Boxen, Klang gewordene Produktionsmeisterschaft. Eine der besten Platten des Jahres, dazu sehr einzig, da ein alter Kämpe wie Wagner ausgerechnet einen Quasi-Newcomer wie Frank Ocean als Einfluss heraufbeschwört: die Bescheidenheit eines echten Musikliebhabers. Und beim Kritiker die Erkenntnis, dass nicht jede Musik zu jedem Wiedergabemedium passt und passen kann. Hi-Fi manchmal fucking rules.

Karl Bruckmaier

7 / 10

Robert Görl (DAF)

Robert Görl

Quelle: Robert Görl

Sehen wir der Tatsache ins Gesicht: Bestenlisten sind im Begriff, redundant zu werden, und das ist eine gute Sache. Sie waren schon immer hässliche Angelegenheiten, eher Autopsien als Ehrenränge. Spielwiesen für Leute, die keine Ahnung von guter Musik haben, aber deren Lebensinhalt die Distinktion ist, weshalb sie sich über intellektuelle Verrenkungen ihre Supermarktmusik cool schreiben müssen. Gibt es 2016 noch so etwas wie Ikonen jenseits des Mainstreams? Musiker, die in erster Linie Musiker sind und nicht Symbolfiguren? Ein Sprechen über Musik, das ein wirkliches Sprechen über Musik ist, und keine Selbstdarstellung?

Eigentlich wäre der Pop-Moment 2016 einer, in dem keine Musik spielt. Etwa Robert Görl, bekannt von den Elektronik-Pionieren Deutsch Amerikanische Freundschaft (DAF), der sich an einem Sonntag im Oktober bei einem Interview versehentlich einen kompletten Zuckerstreuer in den Kaffee haut und erzählt, wie er in den ersten Tagen von DAF von Label zu Label ging und gefragt wurde, "ob er denn glaube, dass das Musik sei." Es war Musik. Ist immer noch Musik. Und die Zweifler verfluchen besagten Tag wohl bis heute, während Görl Zucker in seinen Kaffee rührt und über sie lacht.

Oder der Soundtrack zu "Curious Expedition", einem Computerspiel, den ein ziemlich schüchternes, aber umwerfendes Ein-Mann-Projekt namens Selbstserum im Urban Spree in Berlin mit Tonbändern zum ersten Mal live aufführt. Als er einen Fehler macht, muss er das Tonband zurückspulen, das Publikum wartet bezaubert, und weiß: Vielleicht war das der Pop-Moment 2016. Oder vielleicht auch einfach der Barkeeper im Club um vier Uhr morgens, der "Work Work Work" vor sich her singt. Oder der Radiowecker. Oder dieser eine Song, den man sich merken wollte, aber gleich wieder vergaß. Das sind die Pop-Momente für 2017, 2018, 2080. Denn auch wenn Pop tot ist, lang lebe Pop.

Juliane Liebert

8 / 10

Beyoncé

Super Bowl 50

Quelle: dpa

Wenn man als Popstar eingeladen wird, beim Super Bowl die traditionelle Halftime Show zu bestreiten, hat man folgende Optionen: Man kann herumhüpfen, seine Hits abspulen und lächeln. Man kann auch ein bisschen gegen die guten Manieren verstoßen und so einen Skandal produzieren - wie Janet Jackson es 2004 freiwillig oder unfreiwillig mit ihrem "Nipplegate" tat, oder wie M.I.A., die 2012 als Gast von Madonna live den Stinkefinger zeigte. Oder, dritte Option, man kann die nationale Aufmerksamkeit zur Primetime nutzen, um ein politisches Statement abzusetzen. Das ist sozusagen die Option Beyoncé.

Als sie im Februar als Gast des Hauptakts Coldplay beim Super Bowl auftrat, brachte sie ihre Armee von Tänzerinnen in schwarzen Baretts mit, und was sie auf dem Rasen zeigten, wirkte wie das Ergebnis folgender Überlegung: "Na gut, wenn ich hier zum 50. Jubiläum des Super Bowls auftrete, während draußen immer noch unsere Brüder und Schwestern von der Polizei erschossen oder bei Black-Lives-Matter-Demonstrationen festgenommen werden, dann müssen wir unbedingt Malcolm X gedenken und die Welt daran erinnern, dass 2016 auch das 50. Jubiläum der Gründung der Black Panther Party ist!" Gesagt, getan.

Während der Empowerment-Hymne "Formation" stellten sich Beyoncés Tänzerinnen auf dem Rasen breitbeinig und mit kämpferischen Mienen zum riesigen X auf, was aus Perspektive der Kameradrohne besonders gut zu erkennen war. Beyoncé rief "I slay" und in der nächsten Sekunde liefen alle schon wieder auseinander. Seine Wirkung verfehlte das Bild dennoch nicht. In den USA regten sich konservative Medien über den ins Familien-Entertainment eingebauten symbolischen Aktivismus wahnsinnig auf. Es war einer der flüchtigsten und trotzdem kraftvollsten Pop-Momente des Jahres.

Jan Kedves

9 / 10

AC/DC & Axl Rose

Axl Rose und Angus Young beim AC/DC-Konzert in Lissabon

Quelle: Armando Franca/AP

Und plötzlich war da ein Bruch in der sonst von Brüchen ja unbedingt freizuhaltenden Choreographie: der falsche Name. Nur für ein paar Takte und auch eher vereinzelt. Aber doch deutlich hörbar: "MAL-COM!" Eine Reminiszenz an den anderen der Young-Brüder. Den Gitarristen ohne Schuluniform. Es ist der Auftakt der AC/DC-Deutschlandtour im vergangenen Jahr. Genauer: das Anfangs-Riff von "Whole Lotta Rosie". Eigentlich ein unfehlbarer Trigger. Die ultimative Aufforderung, den Namen des Lead-Gitarristen zu brüllen: "AN-GUS!". Ein über Dekaden eingespielter Frage-Antwort-Ritus. Abweichungen sind da nicht vorgesehen. Bei AC/DC verändert sich schließlich nichts. Selbst, wenn sich die Band doch mal verändern muss. 1980 ersetzte Sänger Brian Johnson das verstorbene Gründungsmitglied Bon Scott. 36 Jahre ist das her. Und die Fans nennen ihn immer noch "den Neuen". Im vergangenen Jahr fiel dann eben Malcom aus. Demenz. Er sitzt in einem Heim in Sydney. Die Band erwähnte ihn während des ganzen Konzertes mit keiner Silbe.

Und der Autor dieser Zeilen schrieb damals: "Dass Malcolm Young auch auf der emotionalen Ebene kaum fehlt, (...) das ist doch ein besonderer Treppenwitz der Pop-Geschichte: Ausgerechnet diese garantiert metaebenenfreie Band ist tatsächlich zur fast metaphysischen Idee geworden. (...) Zu etwas, das die Akteure auf der Bühne beinahe zu Aufführungspersonal degradiert." Und er, der Autor, behauptete weiter, dass ein solcher Austausch mit Angus Young und eben jenem Brian Johnson aber wohl doch nicht ginge. Die seien für die Show zu wichtig.

Und dann erlaubte sich das Jahr 2016 einen noch plumperen Treppenwitz: "Der Neue" (also Johnson) war mit kaputten Ohren raus. Und AC/DC? Ersetzte ihn. Und dieses Mal nicht durch irgendwen, sondern durch W. Axl Rose, den Sänger der anderen großen Rock-Band, die sich nie veränderte (bis er sie im Größenwahn personell komplett austauschte und damit immerhin zwischenzeitlich ruinierte): Guns n'Roses. Was ja so ist, wie wenn CR7 plötzlich aushilfsweise beim FC Bayern aufliefe, damit der die Bundesliga-Saison rumbringen kann. Und auf eine sehr verwirrende Weise funktionierte sogar das. Ein bisschen. Meistens. Und das kann ja dann doch wieder nur der Pop: eine Band derart überhöhen, dass das Personal tatsächlich egal wird. Wobei: Angus können sie nicht ersetzen! Niemals! Garantiert! Nicht mal durch Slash! Wahrscheinlich.

Jakob Biazza

10 / 10

Radiohead

Lollapalooza 2016

Quelle: Sophia Kembowski/dpa

Mir bleibt die Luft weg. Eingequetscht zwischen 40 000 Menschen. Aus ganz Europa sind sie angereist zum Lollapalooza-Festival in Berlin. Als ich mich zu bewegen versuche, rammt mir ein junger Mann seinen Ellenbogen mit Gewalt und Absicht in den Bauch. Er liest (!) in einem schmalen Sartre(!)-Bändchen. Die Hölle, das sind die anderen. Der Staub brennt in den Augen, die Beine brennen einfach so. Keine Bewegung mehr möglich. Noch eineinhalb Stunden bis Konzertbeginn. Und jeder Augenblick wird zur Ewigkeit. Die Zeit scheint still zu stehen.

Dann betreten Radiohead die Bühne.

Noch eineinhalb Stunden bis Konzertende. Und jeder Augenblick wird zur Ewigkeit. Die Zeit steht still. Es fühlt sich an, als könnten wir uns in ihr bewegen. Manchmal rasend schnell, manchmal unendlich langsam. 40 000 Menschen wirbeln Staub auf, tanzen auf brennenden Beinen. Sie bewegen sich, als wären sie ein großes Ganzes. Es gibt keine schöneren Zeiten. Mir bleibt die Luft weg.

Sebastian Gierke

© SZ.de/doer
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: