Klassik:80 Minuten Staunen

Klassik: Schafft, was andere nicht können: Der 26-jährige Klaus Mäkelä dirigierte in Berlin die Sechste Symphonie von Gustav Mahler mit brennender Intensität.

Schafft, was andere nicht können: Der 26-jährige Klaus Mäkelä dirigierte in Berlin die Sechste Symphonie von Gustav Mahler mit brennender Intensität.

(Foto: IMAGO/ANP)

Das Musikfest Berlin startet fulminant mit dem Dirigenten-Star Klaus Mäkelä und dem Sinfonieorchester aus Amsterdam, das der junge Finne in fünf Jahren als Chef übernehmen wird.

Von Wolfgang Schreiber

Als der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss neulich die Festrede zum 20. Geburtstag der Kulturstiftung des Bundes hielt, einer Bastion öffentlicher Förderung unserer kulturellen Freiheit, gipfelten seine Gedanken in der Bemerkung: "Letztlich ist der Preis der Freiheit das eigene Leben." Davon wüssten und erzählten, sagte er, Literatur, Theater, die Kunst - und "die Menschen in der Ukraine". Mehr Demokratie wagen sollten wir, und dann: "Wir müssen mehr Kunst wagen!" Das will eine gerade beginnende Konzertserie einlösen, die sich scheinbar konventionell Musikfest Berlin nennt, jedoch dreieinhalb Wochen lang etwas viel Triftigeres, grundsätzlicher Gedachtes sein will. So zur Eröffnung mit Mahlers "tragisch" umtoster Sechster Symphonie.

Das Musikfest Berlin ist formal eigentlich nur ein - mit Raritäten alter und neuer Volks- und Kunstmusik befeuertes - Treffen von acht internationalen Orchestern mit fünf der sechs großen Klangkörper Berlins. Dass in einer Woche das Odessa Philharmonic Orchestra mit seinem Dirigenten Hobart Earle unter schwer belasteten Bedingungen nach Berlin kommen kann, verdankt sich der Hochleistung Winrich Hopps, des künstlerischen Musikfestleiters, der weiß: "Es ist keine Zeit für Gewissheiten, eher eine der ständigen Vergewisserung." Die erhoffte alte "Normalität" der Kultur sei eine "gefährdete und daher zu schützende Möglichkeit".

Das Wichtigste am Dirigieren sind für Klaus Mäkelä nicht die Hände oder die Arme, sondern die Präsenz

Das Eröffnungskonzert hätte nicht musikalisch fesselnder, überzeugender ausfallen können. Das Gütesiegel aus Amsterdam heißt Concertgebouworkest, die Überraschung aber, wiewohl schon überall verwundert gefeiert, liefert auch hier und jetzt der Dirigent, der Finne Klaus Mäkelä. Er ist gerade 26 Jahre alt, doch bereits Musikchef zweier Symphonieorchester, in Oslo und Paris. Er wird von 2027 an das Amsterdamer Spitzenensemble als Musikdirektor leiten. "Das Wichtigste am Dirigieren sind nicht die Hände oder die Arme, sondern es ist meistens die Präsenz", hat er neulich beteuert. Gefordert also eine geistige Kraft, Wille und Vorstellung zur Transformation der Musik vom inneren Ohr auf das Orchester, auf das Publikum.

Klaus Mäkelä, der drahtig schlanke Mann, der einer Musikerfamilie entstammt, war offenbar schon mit zwölf der "geborene Dirigent". Hörbar und sichtbar bereits beim Eröffnungsstück "Orion" der finnischen Komponistin Kaija Saariaho, einem raffinierten Klangfarbenkunstwerk schillernder Eleganz. Danach stürzen sich Mäkelä und seine Amsterdamer mit einer Spiellust und Wucht in die Mahler-Symphonie, dass des Staunens achtzig Minuten lang kein Ende ist.

Dass Mahler keine Oper komponiert hat, lässt Mäkelä suggestiv vergessen

Der junge Mann aus Helsinki, vom alten Maestro-Macher Finnlands Jorma Panula geformt, "kann" schon alles. Und das Orchester folgt ihm mit traumwandlerischer Selbstsicherheit. Die Musiker, seit Langem die absoluten Mahler-Spezialisten, haben den Gang auch der diffizilsten Katastrophen-Symphonie verinnerlicht. Diese erzählt, sie durchdringt den Lauf eines Menschenlebens in der Abgrundtiefe und Himmelshöhe: philosophisch, klangsinnlich, dramatisch wie auf der Theaterbühne. Dass Mahler keine Oper komponiert hat, lässt Mäkelä suggestiv vergessen.

Einmal mehr ist verwunderlich, wieso Mahler-Symphonien, von Zeitgenossen verhöhnt, gestandenen deutschen Dirigenten fremd blieben, von Wolfgang Sawallisch bis Christian Thielemann. Ein ganz junger Klaus Mäkelä kommt, erlebt und dirigiert die Sechste mit brennender Intensität, die Kontrastgewalt des Kopfsatzes in der entflammtesten Körperspannung, die Scheinidylle des Andante in aller Zweideutigkeit, das Scherzo als grimmig-schöne Rhythmusschieflage und das Finale im Zwang zur Zerstörung aller Lebenskraft durch brutale Hammerschläge. Klaus Mäkelä beeindruckt durch Unruhe in der Ruhe und Willen zum Äußersten.

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