Musik:Ton und Trance

Musik: Sinnliche Wirkungen von Mensch zu Mensch: Björn Schmelzer, hinten rechts, lässt mit seinem Ensemble 700 Jahre alte Musik erklingen, ganz so, als wäre sie von heute.

Sinnliche Wirkungen von Mensch zu Mensch: Björn Schmelzer, hinten rechts, lässt mit seinem Ensemble 700 Jahre alte Musik erklingen, ganz so, als wäre sie von heute.

(Foto: Koen Broos)

Sein Antrieb ist die Überzeugung: So langweilig kann das nicht geklungen haben. Wie der Belgier Björn Schmelzer das sonnige, bunte Mittelalter musikalisch wiederbelebt, dass es eine Freude ist.

Von Helmut Mauró

Musik aus dem Mittelalter, das verspricht öde Klänge und staubige Rhythmen, eine hüpfende Flöte und debil dreinblickende Menschen in Kartoffelsackhosen. Wer das Mittelalter nur aus Filmen kennt, wird es nicht missen.

Ganz anders der belgische Volkskundler Björn Schmelzer, der sich mal genauer mit den alten Handschriften und ihrer Verlebendigung beschäftigt hat und die Musik aus dem 13. bis 15. Jahrhundert mit seinem Gesangsensemble "Graindelavoix" so aufführt, als sei sie heute oder zumindest für heute komponiert.

Statt lahmer Brummtöne und indifferenter Sperrholzklänge begegnet man auf einmal einer ganz und gar faszinierenden Klangwelt, wie sie sonst nirgends in der klassischen Musik zu finden ist, und im Pop schon gar nicht. Aber genau verortet er sein Zielpublikum.

Man kann Schmelzer nur vage als Dirigenten oder Chorleiter bezeichnen, auch wenn er inzwischen vor allem als solcher aktiv ist. Nach seinem Auftritt im Berliner "Kraftwerk" sitzt er nun auf einer Bierbank in einem Sichtbetonraum gleich neben der Bühne, wo seit beinahe einer Stunde ein paar Blechbläser auf- und abschwellende, sich verdichtende und wieder verdünnende Klangmuster in den dunklen Raum zaubern. Eine Veranstaltung des Märzmusik-Festivals im Berliner "Kraftwerk".

In der Nacht zuvor war auch Schmelzer mit seiner Alte-Musik-Gruppe aus Antwerpen hier aufgetreten. Dabei musste er nicht nur gegen zwei handelsübliche Klanginstallationen im Erdgeschoß ankämpfen, sondern auch gegen die harten Beats und die rumpelnden Bässe aus dem Club "Tresor" im gleichen Gebäude, vor dem die Jugendlichen Schlange standen; der Eintritt dort war allemal günstiger als beim staatlichen Märzmusik-Festival.

Als sei der Gesang eine etwas andere Art von Trance-Music

Auch andere Widrigkeiten arbeiteten in dieser Nacht gegen Schmelzer und sein Gesangsensemble. In Berlin stellt sich ja immer die Frage: Wieviel Drogen braucht der Mensch, zum Beispiel Marihuana, und der unbedarfte Besucher musste an diesem Abend denken, soviel nun auch wieder nicht, bevor ihm schlecht wurde.

"Wir haben es überlebt", sagt Schmelzer, der jetzt nur noch gegen die Brassband draußen ankämpfen muss und nicht mehr gegen den dichten Nebel aus Kreuzberger Kräutermischungen.

Letzte Woche sangen sie noch in einer Berliner Kirche, aber solche Festivals mit etwas anders gearteter Kundschaft sind ihm mindestens so lieb, sagt er. Da erreicht er ein anderes Publikum. Das liegt in dieser Nacht auf Feldbetten, die es aus dem Erdgeschoß heraufgeschleppt hat, und lauscht dem fremdartigen Gesang mit mildem Lächeln und glasigen Augen, als sei es eine etwas andere Art von Trance-Music.

Ihm geht es um die klingende Seele der Musik

And Underneath the Everlasting Arms - Polyphony for a Better Sleep" heißt das Programm mit gesprochenen Texten von Samuel Beckett und Musik von Agricola, Desprez, Senfl, Coppini, Obrecht, Divitis, Gombert, Sheppard und Lasso.

Der Name des Gesangsensembles ist Programm. "Graindelavoix" heißt soviel wie "Kern der Stimme" oder auch, nach der Idee des Linguistik-Philosophen Roland Barthes in seinem gleichnamigen Interviewband "Körnung der Stimme", und man kann dies sowohl auf den Stimmklang und die Art, wie sie eingesetzt wird, beziehen, als auch auf die Essenz des Vorgetragenen.

Schmelzer geht es um mehr als nur um betörenden Klang oder eleganten Vortrag. Er will die ganze Musik, den rein musikalischen Klang, den Wortklang, den Textinhalt und darüber hinaus das Eigentliche: die klingende Seele. Musik als Medium von Mensch zu Mensch. Der musikalische Kern ist kein klangästhetischer, sondern ein spiritueller.

Die Art des Singens erinnert an die Klageweiber von Kreta

Schmelzer sagt das nicht so direkt, aber die Art, wie er um das herum redet, was man so direkt nicht benennen kann, das weist immer wieder in eine Richtung: nach innen.

Das neue Album "Requiem" mit einer Trauermusik des Renaissance-Meisters Orazio Vecchi - die nach Schmelzers Nachforschungen wahrscheinlich bei der Beerdigung von Peter Paul Rubens gesungen wurde - ist nach den elf bereits erschienenen nochmal eine Steigerung an Ausdruckskraft und leidenschaftlicher Spiritualität.

Die Art des Singens hat mehr mit den Klageweibern von Kreta zu tun oder mit sardischen Hirtenliedern als mit der höfischen Kunst des nördlichen Europa. Oder auch mit jener Art volkstümlch anmutender, klanggestützter Choraltradition, wie sie in den Ostkirchen, zumal in Georgien gepflegt wird.

Theoretische Unterfütterung aus der Kunstgeschichte

Der musikalische Kern ist bei Björn Schmelzer und seiner Gesangsformation "Graindelavoix" kein klangästhetischer, sondern ein spiritueller.

Musik als Medium von Mensch zu Mensch: Der musikalische Kern ist bei Björn Schmelzer und seiner Gesangsformation "Graindelavoix" kein klangästhetischer, sondern ein spiritueller.

(Foto: Koen Broos)

Für Alte-Musik-Akademiker ist das sicherlich ein Schock. Aber für alle, die nicht wissen, wer Josquin Desprez und Guillaume Dufay ist oder Duarte Lobo, und wann diese Musiker ungefähr gelebt haben, ist es eine überraschende Erweiterung ihrer Hörgewohnheiten, und für jeden neugierig gebliebenen Musiker eigentlich eine Offenbarung.

Auf inzwischen 12 CDs (bei Note 1) kann man eine neue Welt des Spätmittelalters und der beginnenden Neuzeit erleben, glamouröse Messen von Guillaume de Machaut und Johannes Ockeghem, erschütternde Klagelieder von Gilles de Bins, besser bekannt als Binchois, oder ein fast schon himmelwärts entrücktes Requiem von Orazio Vecchi - die jüngste Produktion.

Schmelzer zieht einfach die praktische Konsequenz aus der Überzeugung, die eigentlich jeder gewinnen muss, der sich Aufnahmen mittelalterlicher Musik anhört: So langweilig kann das nicht geklungen haben, denkt man sich.

Die Leute hatten doch auch ihren Spaß und eine ziemlich ausgefeilte Musikkultur. Da musste doch nicht erst ein romantisches Symphonieorchester anrücken oder ein Steinway-Flügel, um große Musik zu machen.

In der Tat geht es hier immer auch um die großen Fragen der musikalischen Ästhetik, ja des Kunstdiskurses generell. Schmelzer reflektiert diese Ebene sehr genau, die praktische Umsetzung seiner Ideen ist durchaus theoretisch unterfüttert.

Deutende Gestaltung durch den Akt der Aufführung

Aber nicht die üblichen Verdächtigen aus der Musikphilosophie sind für ihn dabei in erster Linie relevant, sondern Kollegen aus Nachbardisziplinen, insbesondere der deutschen und französischen Kunstgeschichtsschreibung.

Aby Warburg mit seiner "Pathosformel" und der Kategorie "Nachleben" sind für ihn eminent, Bruno Latour und Gilles Deleuze, Alfred Gell und immer wieder Wilhelm Worringer mit seiner Dialektik aus "Abstraktion und Einfühlung". In diesem Spannungsfeld sieht sich auch Schmelzer mit seiner Herangehensweise an die alten Musikhandschriften.

"Performative Exegese" nennt er seinen Ansatz, also eine deutende Gestaltung durch den Akt der Aufführung, und das ist nichts weniger als "eine Rehabilitation der empathischen Annäherung".

Annäherung über die Anthropologie

Dass er mit diesen alten Meistern einmal ein jüngeres Publikum erreichen würde, hätte er nicht gedacht. Dass er überhaupt als Musiker reüssieren würde, wäre ihm nicht in den Sinn gekommen. Vor vielen Jahren, als Björn Schmelzer noch ein Vorschul-Steppke war und ihn die Mutter zum Musikunterricht anmeldete, da hatte der Lehrer schon eine gewisse Vorahnung. "Du bist mit Johann Heinrich Schmelzer verwandt", sagte der Lehrer und zeigte ihm den Lexikoneintrag des großen Renaissance-Komponisten, Kapellmeisters und Violinisten.

Ob an der vermuteten Verwandtschaft etwas dran ist? "Das Gegenteil lässt sich ebensowenig beweisen", sagt Schmelzer, "und ich denke, die Behauptung hat mich unbewusst ein bisschen geprägt".

Dabei studierte er zunächst Anthropologie und strebte keinerlei musikalische Karriere an. Genau dies scheint nun der Schlüssel für seinen Erfolg als Gründer und Leiter des Gesangsensembles "Graindelavoix" zu sein, das sich alter und sehr alter Musik widmet, lange vor Bach, zurück ins sechszehnte, fünfzehnte, vierzehnte, sogar dreizehnte Jahrhundert.

Weit herum gekommen im südlichen Europa

Musik aus Gesangbüchern mit Pergamentpapier, jedes Blatt kunstvoll bemalt mit prächtigen Textinitialen und oft auch inhaltlicher Bebilderung. Schmelzer glaubt, dass auch diese Initialen noch ein paar Geheimnisse bergen für den musikalischen Vortrag.

"Die einen beschäftigen sich mit den Noten", sagt er, "die anderen mit dem Text. Aber es gibt da noch eine Ebene dazwischen." Schmelzer ist selber Forscher, sein Studium der Anthropologie, der durch die Jahrhunderte in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten gelebten Kunst und Kultur, hat ihn tief geprägt und weit herum gebracht im südlichen Europa.

Bis heute ist die Beschäftigung mit den Gesängen aus Sizilien, Sardinien oder Portugal die Basis seiner musikalischen Praxis. Weniger die Musikwissenschaft, die er wie viele musikalisch begabte Menschen als eine schrecklich abstrakte Erbsenzählerei erlebt hat.

Hier die Noten, da der Text - aber da ist noch etwas dazwischen - der Kern

Trauerzug zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Damen tragen den sogenannten "Huik", einen schwarzen Ganzkörperschleier, der sich im 17. Jahrhundert in den Niederlanden und in Belgien eingebürgert hat.

Trauerzug zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Damen tragen den sogenannten "Huik", einen schwarzen Ganzkörperschleier, der sich im 17. Jahrhundert in den Niederlanden und in Belgien eingebürgert hat. Das Album "Requiem" mit Trauermusik des Renaissance-Meisters Orazio Vecchi zeigt das Foto auf dem Cover.

(Foto: note 1)

Ihm komme es so vor, sagt Schmelzer, als würde ein Kunsthistoriker nur die Farbpigmente studieren und die Vorbereitung der Leinwand, aber nicht die Art und Weise, wie ein Renaissance-Maler beim Betrachter diese enorme Wirkung erzielt.

Der Chor steht bei Schmelzer auch nicht in Reih und Glied, sondern meistens im Kreis, einander zugewandt und in sich gekehrt. Schmelzer bringt die Sänger gleichsam in eine konkrete musikalisch-spirituelle Situation, aus der heraus sie agieren.

Sie sind der Kern eines Geschehens, zu dem fast gleichberechtigt auch das Publikum gehören soll. So wird das im Grunde in allen Kulturen praktiziert, das war auch bei uns einmal so, als Instrumentalisten zum Tanz aufspielten oder die Kirchensänger nur zu viert oder zu acht antraten und sich gegenseitig permanent beobachten und verständigen mussten.

Einen Dirigenten gab es nicht. Warum also dirigiert Schmelzer seinen kleinen Chor? "Ich dirigiere eigentlich gar nicht", sagt er, "ich gebe nur Impulse, jeder hat ansonsten große Freiheiten".

In der Tat sieht das großräumige Auf- und Abrudern auch nicht ganz so elegant aus wie auf einem philharmonischen Podium. Selten gibt Schmelzer einzelne Einsätze, noch schlägt er den Takt.

Gestaltungsmöglichkeiten, die zweihundert Jahre als Ausrutscher wahrgenommen wurden

Einmal, da stehen die Sängerinnen und Sänger besonders eng zusammen, mischt er sich darunter und wechselt einmal im Kreis herum von Sänger zu Sänger, als ob er mehr zuhöre als selber einzugreifen. Aber Musik ist vor allem eines: Musizieren. Es gehe um den performativen Akt, nicht um die geschriebenen Noten. Die sind nur eine Skizze oder ein "Diagramm", wie er sagt.

Vieles steht nicht darin, das wesentlich ist für die Aufführung und das Ergebnis. "Am Anfang haben sich die Musiker geweigert, ein Glissando zu singen", sagt Schmelzer. Sie glaubten, das habe es damals nicht gegeben. Weil es nicht in den Noten steht. Heute rutschen sie mit Leidenschaft die Tonleiter herunter und wieder hinauf, als hätten sie nie anderes artikuliert.

In der westlichen Hochkultur der letzten zweihundert Jahre hat man solcherlei Gestaltungsmöglichkeiten eher als Ausrutscher wahrgenommen, als unschöne Unsauberkeiten. Töne anschleifen, von einem zum anderen schmieren, das galt nicht gerade als vornehm. Aber vielleicht muss diese Musik zumindest für nordeuropäische Ohren wirklich vulgär klingen, um ihren vollen sinnlichen Gehalt entfalten zu können. So, wie man noch heute selbst die Werke von Heinrich Schütz singt, ist von der Musik her kaum zu verstehen.

Ziel ist eine zeitlose Wirkungsmacht

Da geht es um andere ästhetische Traditionen, um Ordnung und Sauberkeit, um eine keimfreie Kunst. Damit hat Schmelzer nichts am Hut. Er sucht auch nicht nach der historischen Wahrheit - dann dürfte er schon mal gar keine Frauenstimmen besetzen -, und trotzdem hat man stellenweise den Eindruck, dass diese Musik auch zur Zeit der Entstehung vor siebenhundert Jahren ungefähr so geklungen hat.

Aber Schmelzer geht es mehr um eine zeitlose, er sagt "anachronistische", Wirkungsmacht. Aber eine sinnliche Wirkung muss es schon sein. An die Theorien über mittelalterliche Kunst, wie sie etwa Umberto Eco formuliert hat, glaubt er nicht.

Eco geht von einer "intellektuellen Wahrnehmungsweise" aus, "die eine unbeteiligte Art des Vergnügens nach sich zieht". Es gehe mehr um Versenkung ins Kunstobjekt als um dessen Aneignung, um Betrachtungen der Proportionen, der Ganzheit und Klarheit eines Kunstwerks.

Forschungsergebnisse, die man nicht gutheißen kann

Mit dieser modernen oder eigentlich romantischen Denkweise hat man auch einen eigentlich sensationellen Fund einer Turiner Handschrift kleingeredet. Es ist das wahrscheinlich umfangreichste Werk eines Komponisten aus dem frühen 15. Jahrhundert. Er heißt Jean Hanelle, ist komplett unbekannt und wird es wohl noch eine Weile bleiben.

Die Musikwissenschaftlerin Margaret Bent schrieb noch 1992 von Massenproduktion nach Standardvorlage, Daniel Leech-Wilkinson attestierte die "schablonenhafte Kompositionsweise" einer "uninspirierten Musik". "Die Entstehung von Meisterwerken ist auf diese Weise natürlich kaum denkbar."

Wenn man weiß, wie sehr solche Einschätzungen die Aufführung von Musik und also das klangliche Ergebnis beeinflussen, kann man solcherlei Forschungsergebnisse nicht gutheißen. Wie falsch sie aber tatsächlich sind, das hört man am klarsten in der klanglichen Wiederbelebung durch Schmelzers Ensemble Graindelavoix. Mutiger, freier, wahrer, meisterlicher und menschlicher hat diese Musik wohl seit ihrer Entstehung nicht mehr geklungen.

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